Umstrittener Diabetestest "Erhebliche Risiken für Mutter und Kind"

Nach dem ungeklärten Tod einer Mutter und ihres Babys in Köln fordern Ärzte einen anderen Diabetestest. Die gängige Methode sei "mehrfach fehleranfällig", sagt die Internistin Heinke Adamczewski.
Die Heilig Geist Apotheke in Köln: Hier hatte die schwangere Frau den Glukosetest gekauft

Die Heilig Geist Apotheke in Köln: Hier hatte die schwangere Frau den Glukosetest gekauft

Foto: Oliver Berg/ DPA

Eine Mutter und ihr per Kaiserschnitt geborener Säugling starben, nachdem die Frau ein vergiftetes Glukosepräparat aus einer Kölner Apotheke eingenommen hatte. Wie die Glukoselösung verunreinigt wurde, ist noch unklar - die Ermittler schließen weder Fahrlässigkeit noch Vorsatz aus.

Die Lösung mit Glukose (Traubenzucker) war für einen standardmäßigen Test auf Schwangerschaftsdiabetes verkauft worden. An dieser Testmethode gibt es schon länger Kritik - unter anderem von Heinke Adamczewski, Internistin und Diabetologin aus Köln. Die 57-Jährige sitzt im Vorstand der bundesweiten "Arbeitsgemeinschaft Diabetes und Schwangerschaft" der Deutschen Diabetes Gesellschaft.

Im Interview spricht Adamczewski über die Schwächen des Glukosepräparats, die Gefahr falscher Diagnosen und die Sparpolitik der Krankenkassen.

SPIEGEL: Frau Adamczewski, Experten wie Sie haben bereits vor drei Jahren öffentlich davor gewarnt, lose abgepacktes Glukosepulver für Diabetestests zu verwenden. Fühlen Sie sich durch den Todesfall in Köln bestätigt?

Heinke Adamczewski: An einen tragischen Todesfall haben wir damals nicht gedacht. Aber wir hatten durchaus Sicherheitsbedenken. Das Glukosepulver wird in den Apotheken aus großen Behältern in kleine Tüten umgefüllt. Dass dabei durch Nachlässigkeit oder mit krimineller Absicht eine andere Substanz hineingegeben werden könnte, daran hatten wir gar nicht gedacht. Unser zentrales Argument war und ist ein anderes.

SPIEGEL: Und welches?

Adamczewski: Das Umfüllen des Glukosepulvers ist ein mehrfach fehleranfälliger Prozess. Das Pulver muss in der Apotheke sehr genau abgewogen werden, dann müssen wir es in den Praxen in 300 Milliliter Wasser vollständig auflösen; anschließend trinken die Frauen die Lösung, nach einer und nach zwei Stunden bestimmen wir den Blutzuckerwert. Aber selbst wenn man lange und gründlich rührt, kann ein Bodensatz im Gefäß zurückbleiben. Oder es haften noch Reste an der Folie fest, wenn man das Pulver in den Rührbecher schüttet. Wir befürchten, dass derartige Fehlerquellen die Testergebnisse verfälschen und wir am Ende unwissentlich falsche Diagnosen stellen.

SPIEGEL: Was wären die Folgen solcher Fehldiagnosen?

Adamczewski: Einen Schwangerschaftsdiabetes zu übersehen, bedeutet erhebliche Risiken für Mutter und Kind. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind auch im späteren Leben an Diabetes erkrankt oder Probleme mit Herz und Kreislauf bekommt, ist erhöht. Auch die Mutter trägt dann unwissentlich ein größeres Risiko, einen lebenslang andauernden Diabetes zu entwickeln. Die vermehrte Bildung von Insulin im Mutterleib hat zudem zur Folge, dass der Fötus übermäßig an Gewicht zunimmt. Das Risiko für eine komplizierte Geburt steigt, das Risiko einer sogenannten Schwangerschaftsvergiftung ebenfalls. Wegen dieser Risiken muss der Diabetestest laut den verbindlichen Mutterschaftsrichtlinien jeder Schwangeren angeboten werden. Dann darf die Grundlage doch kein fehleranfälliger Test sein.

SPIEGEL: Welche Alternative sehen Sie?

Adamczewski: Es gibt einen Sirup, den wir lange verwendet haben, ein Fertigprodukt. Es verursacht bei einer geringeren Zahl von Frauen Nebenwirkungen: Sie müssen seltener erbrechen und haben weniger Kreislaufprobleme als bei der in der Praxis aufgelösten Glukoselösung. Diese Fertiglösung wird weltweit eingesetzt, industriell hergestellt und nach einem einheitlichen Standard abgefüllt. Sie wird bis zur Verwendung in der Praxis ungeöffnet transportiert, und ihre Herstellung unterliegt einer Qualitätskontrolle wie ein Medikament. Dieser Test kostet etwas mehr als fünf Euro. Doch seit 2016 gehört es zur Sparpolitik der Krankenkassen, nur noch das Glukosepulver zu erstatten. Sie zahlen dafür an die Apotheken pro Tüte 1,21 Euro. Die Sicherheit und Fehleranfälligkeit würde sich also verringern, wenn die Krankenkassen für jede Schwangere gut vier Euro mehr investieren würden. Bei rund 750.000 Geburten im Jahr macht das etwa drei Millionen Euro aus - offenbar zu viel.

SPIEGEL: Man könnte auch anders argumentieren: Die Gesundheitskosten explodieren - also muss man sie eindämmen. Und es gehört zum Job der Mitarbeiter in Praxen und Apotheken, das Glukosepulver optimal zu verarbeiten.

Adamczewski: Das ist als Prinzip richtig, widerspricht aber dem echten Leben. Häufig werden in einer diabetologischen oder geburtshilflichen Praxis an einem Tag zehn Frauen mit der Glukoselösung versorgt. Die Frauen dürfen noch nichts gegessen und auch sonst an dem Tag noch nicht viel erledigt haben, denn all das verändert ihren Stoffwechsel. Wenn die Praxismitarbeiter in diesem engen Zeitfenster gleichzeitig in zehn Bechern ein Glukosepulver anrühren müssen, das sich ohnehin schlecht auflöst, ist exaktes Arbeiten nicht immer möglich.

SPIEGEL: Sind Schwangere angesichts dieser Nachteile nicht bereit, den Siruptest selbst zu bezahlen?

Adamczewski: Viele Kollegen arbeiten in Stadtteilen, in denen mehr als die Hälfte der Patientinnen einen Migrationshintergrund haben, oft kein Deutsch sprechen und einen Übersetzer brauchen. Diesen Patientinnen kann man die Problematik nicht immer ausreichend gut erklären. Häufig ist Geld knapp, einige haben kein Portemonnaie dabei oder dürfen ohne die Zustimmung des Ehemannes kein Geld ausgeben. Die Frauen aufzufordern, die Fertiglösung selber zu zahlen, ist meines Erachtens diskriminierend und schließt gerade die schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft von einer optimalen Versorgung aus.

SPIEGEL: Und dann verabreichen Sie ihnen den Pulvertest, obwohl Sie ihn für fehleranfällig halten?

Adamczewski: Ja, das ist das Dilemma - was macht man? Ärzte, die die Fertiglösung einsetzen, müssen damit rechnen, noch jahrelang rückwirkend Rückzahlungsforderungen der Krankenkassen zu erhalten. Soweit mir bekannt ist, wird dieses Thema nicht überall in Deutschland gleichermaßen streng behandelt, aber im Verwaltungsbezirk Nordrhein und in Bayern häufen sich solche Regressforderungen.

SPIEGEL: Wie reagieren Sie und Ihre Kollegen?

Adamczewski: Wir legen in jedem Quartal Widerspruch gegen diese Rückzahlungsforderungen ein. Darüber hinaus haben wir zusammen mit unseren Fachgesellschaften bereits vor Jahren und wiederholt unsere Bedenken formuliert und den Krankenkassen vorgelegt. Wir brauchen Rechtssicherheit - nicht nur, weil wir möglicherweise auf den zusätzlichen Kosten sitzen bleiben. Es geht auch um die Frage, wer am Ende die Verantwortung trägt, wenn fehleranfällige Tests in eine falsche Diagnose münden. Wir haben Sorge, dass wir haftbar gemacht werden.

SPIEGEL: Vergangene Woche wurde bekannt, dass die nordrheinischen Krankenkassen den Siruptest ab sofort bis einschließlich Dezember bezahlen, nachdem der Todesfall in Köln so viele Fragen aufgeworfen hat.

Adamczewski: Ein erster Schritt - aber diese zeitliche Befristung ist nicht nachzuvollziehen. Es ändert sich dadurch ja nicht das grundsätzliche Problem. Nach dem Tod in Köln sollte das Pulver in keiner Praxis mehr verwendet werden, unabhängig davon, wie es zu der Verunreinigung des Glukosepulvers gekommen ist.

SPIEGEL: Urteilen Sie da nicht vorschnell? Noch laufen die Ermittlungen, und die Verstorbene könnte genauso gut das Opfer eines Verbrechens gewesen sein.

Adamczewski: Die Herstellung der Glukoselösung aus Pulver enthält viele Verarbeitungsschritte, die alle vermeidbar wären und Sicherheitslücken geöffnet haben. Gerade nach diesem entsetzlichen Todesfall sollte der Gesellschaft die Sicherheit der uns anvertrauten Schwangeren und ihrer Kinder vier Euro mehr Wert sein. Dafür müssen die Krankenkassen, die seit Jahren die Warnungen und Bedenken der Fachgesellschaften in den Wind geschlagen haben, jetzt einstehen.

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