Kriegsrecht am Mississippi Bagdad, New Orleans

Wenn es Nacht wird, versinkt New Orleans in Anarchie. Die einst lebendige Metropole wirkt wie die verlassene Kulisse eines Katastrophenfilms. Banden plündern, die meisten Einwohner sind geflohen. Mit letzter Kraft versucht die Polizei, der Lage Herr zu werden.

New Orleans - Die vergitterte Tür des kleinen Elektroladens an der Magazine Street leistet Samstagnacht erheblichen Widerstand gegen die Staatsmacht. Immer wieder rammt Kevin Deal den Schaft seiner M-16 auf den verrammelten Eingang. Dem 22-jährigen Polizisten steht der Schweiß auf der Stirn. "Lass Papa mal ran", ruft sein Kollege Josh Valek, der hinter ihm steht. Zum Plündern im Auftrag des Staats hat Valek eine bessere Waffe. Mit voller Wucht schleudert er eine Autobatterie gegen das Gitter. Nach dem dritten Mal gibt es endlich nach und die Beamten treten die Tür ein. Sofort stürmen sie in den Laden und suchen nach brauchbarem Material.

Nach wenigen Minuten kommen die Polizisten wieder aus dem Laden heraus, mit leeren Händen. Seit Stunden suchen Deal und seine Kollegen verzweifelt nach einer Batterie-getriebenen Pumpe. Wie Tausende andere Menschen in und um New Orleans fehlt es ihnen vor allem an Benzin für ihre Wagen. Das könnte es gleich gegenüber geben, ein paar Meter unter einer Tankstelle lagern dort tausende Liter des begehrten Stoffs. Doch ohne Strom ist der Treibstoff so gut gesichert wie in einem unknackbaren Safe. Vorerst müssen die Beamten also wieder den wenigen privaten Autofahrern Benzin abknöpfen: Zwei Gallonen Sprit, etwas mehr als sieben Liter, machen sie zumindest für zwei weitere Stunden einsatzbereit.

Der Bezirk, in dem die beiden Teams patrouillieren, gilt als beliebtes Ziel von Plünderern. Hier in Uptown wohnt kaum noch ein Mensch, die meisten haben ihre Wohnungen fluchtartig verlassen. Viele Eingangstüren stehen offen für Diebe - oder für Menschen, die schlicht ein Dach über dem Kopf suchten. Ohne Strom liegt das Viertel nun wie fast die ganze Stadt in finsterer Nacht. "Sobald es dunkel wird, ist die Zeit der Plünderer gekommen", sagt Valek. Und die Polizisten haben kaum eine Chance, sie zu fassen.

Daueralarm seit Tagen

Nur ein einziger hell erleuchteter Supermarkt erinnert daran, dass hier vor wenigen Tagen Tausende Menschen lebten. Irgendwo muss der Laden einen Notstromgenerator haben. Laut schrillt seit zwei Tagen in kurzen Intervallen die Alarmanlage. Die Türen sind mit Holz verrammelt. Durch eine Spalte sind die leeren Regale zu sehen. Auf dem Boden liegen aufgerissene Packungen herum, Lachen von Saft und Milch bedecken den Boden vor der Kühltheke. "Ein Mob von 40 Menschen hat hier gewütet", sagt Valek. Erst mit Schüssen in die Luft konnten seine Kollegen die Plünderung beenden.

In dem Viertel rund um den Supermarkt wird das Chaos nach der Naturkatastrophe sichtbar. Viele der Holzhäuser sind komplett zerstört oder stark beschädigt. Überall liegen umgeworfene Bäume quer über den Straßen. Die Patrouille von Deal und Valek endet immer wieder in Sackgassen. Entweder sind es Bäume oder verschobene Autos, die die Straße blockieren. Mit dem Suchscheinwerfer leuchtet Valek hier besonders genau um den Wagen herum in die Dunkelheit. "Oft sind Einwohner an diesen Stellen bedroht worden", sagt er, "innerhalb von Sekunden wurden sie aus dem Auto gezogen und verloren das Letzte, was sie noch hatten."

Kriegsrecht wie im Irak

Der 26-jährige Valek war noch im letzten Jahr als Soldat im Irak. Aus Bagdad kennt der bullige Beamte mit seinem noch immer militärischen Haarschnitt die Regeln des Kriegs: Wer zuerst schießt, überlebt. Dass sich seine Heimatstadt New Orleans innerhalb von Tagen in ein Krisengebiet verwandelt hat, in dem das Kriegsrecht gilt, findet er beschämend. "Wenn die Menschen Wasser und Essen aus den Läden nehmen, kann ich das auch als Polizist verstehen", sagt er, "doch wenn sie andere beklauen, ist das doch pervers." Die Bilder im Fernsehen von plündernden Amerikanern sind ihm dennoch peinlich. "Es sieht aus wie in einem Land der Dritten Welt", sagt er voller Verachtung.

Dass die Polizisten zum Letzten entschlossen sind, sieht man ihnen an. Über den seit Tagen nicht gewechselten speckigen Uniformen tragen sie schwere schwarze Schutzwesten. Statt der normalen Pistole haben Valek und Deal ein schweres Gewehr umgehängt, ein Finger stets am Abzug. Kontrollieren sie ein Auto, verschanzt sich einer der Beamten mit der Waffe im Anschlag hinter dem Streifenwagen. Machen die Insassen auch nur einen verdächtigen Eindruck, nehmen die Polizisten sie sofort fest. Grundsätzlich gilt in der ganzen Stadt eine Ausgangssperre, sobald es dunkel wird.

Die Nacht zum Sonntag verläuft ruhig. Irgendwo in der Stadt haben Plünderer einen Laden angesteckt. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit nehmen Deal und Valek einen Mann fest. Nackt war er durch die Magazine Street gelaufen, hielt den Polizisten provokativ seinen Penis entgegen. Was die Beamten für einen schlechten Scherz hielten, hatte einen schlichten Grund. Nach einer Untersuchung im provisorischen Gefängnis am Covention Center fand ein Arzt heraus, dass der Mann seit Tagen seine Psychopharmaka nicht eingenommen hatte. Wirr und hilflos war er offenbar tagelang durch die Gegend geirrt.

Eine verlassene Kulisse

Weiter arbeitet sich die Streife durch die totenstille Downtown. Sie Szenerie hier wirkt wie die Kulisse eines Katastrophenfilms, nachdem die Statisten Feierabend gemacht haben und auch der Nachtwächter nach Hause gegangen ist. Vor den Geschäften liegt das Glas eingeschlagener Scheiben. Die Hochhäuser recken sich in den pechschwarzen Himmel, an dem manchmal ein Hubschrauber seine Kreise zieht. Außer dem hektischen Geflacker der Polizei-Lichter herrscht komplette Dunkelheit.

Nur rund um das Covention Center und den Superdome laufen noch einige Menschen herum, die auf einen Bus nach Houston oder in eine andere Stadt hoffen. Sie sind die letzten der 25.000, die tagelang in dem Stadion Zuflucht gesucht haben und die am Samstag in Hunderten von gelben Schulbussen aus der Stadt gebracht wurden. Zurück bleiben Berge von Müll, Hunderte Einkaufswagen und riesige Lachen stinkenden Abwassers. In das Stadion selbst lässt die Polizei niemanden mehr, es will auch niemand mehr hinein.

Private Sicherheitsdienste schützen TV-Sender

Grelles Licht gibt es in New Orleans bei Nacht nur in der Canal Street mitten im Zentrum von Downtown. Dutzende Satellitenwagen der amerikanischen und internationalen Fernsehsender stehen dicht an dicht auf der Mittelspur der Straße. Baustellen-Generatoren brummen vor sich hin und liefern den Strom für Flutlichtscheinwerfer, welche die Straße ausleuchten. Währenddessen werden in den riesigen klimatisierten Bussen die Nachrichten geschnitten, betextet und per Satellit abgeschickt. So erfährt die Welt von der Katastrophe, die trotz sinkenden Wasserständen überall in der Stadt noch lange nicht unter Kontrolle ist.

Um die teure Technik herum schleichen kräftige Männer. Schwere Gewehre haben auch sie, sie tragen Khaki-Hosen, schwarze T-Shirts, Gürtel mit Messern und Teleskopstöcken. Im raspelkurzen Haar steckt trotz der späten Stunde die obligatorische Sport-Sonnenbrille. Als eine Gruppe von ihnen in einen verdunkelten GMC steigt, lacht der ehemalige Soldat und jetzige Polizist Valek zynisch. "So weit ist es schon gekommen", sagt er bitter, "dass sich die TV-Sender von privaten Sicherheitsfirmen schützen lassen - genau wie da unten im Irak."

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