Wiedersehen mit dem Lebensretter "Ich wusste sofort, was er da oben wollte"
Garstiges Januarwetter herrschte in der Londoner City, und der Mann auf der Waterloo Bridge hatte trotzdem nur ein T-Shirt an. Bis auf die Brüstung war er schon geklettert; hoch über der eisigen Themse kauerte er auf der Kante, als plötzlich ein Passant auf ihn zukam. "Hey Kumpel", sagte der Fremde. "Kannst du mir mal erzählen, was du hier auf der Brücke machst?"
Sechs Jahre ist diese Begegnung inzwischen her. Jonny Benjamin wollte an diesem 14. Januar 2008 in den Tod springen, nachdem bei ihm eine psychische Erkrankung diagnostiziert worden war. Neil Laybourn wiederum war gerade zu Fuß auf dem Weg zur Arbeit. Freundlich stellte er Benjamin ein paar Fragen, machte ihm Mut, lud ihn auf einen Kaffee ein - und rettete ihm damit wohl das Leben. Fast eine halbe Stunde unterhielten sich die Männer, dann kam die Polizei, packte Benjamin in einen Streifenwagen und brachte ihn in Sicherheit.
Er habe nie Gelegenheit gehabt, sich zu bedanken, sagte der verhinderte Suizident später der BBC. Mit einem bewegenden Aufruf in den sozialen Netzwerken versuchte er, seinen Retter aufzuspüren, von dem er so gut wie nichts wusste - nicht einmal den richtigen Namen. Jetzt hatte seine Aktion #findmike Erfolg: Fast genau sechs Jahre nach ihrem Dialog auf der Waterloo Bridge trafen sich die Männer wieder, laut "Telegraph" im Hinterzimmer eines Pubs im Londoner Stadtteil Vauxhall. Ein Video zeigt die rührende Begegnung.
"Ich erinnerte mich an seine Stimme, seine ganze Art"
"Ich war am Anfang so überwältigt", sagte Benjamin dem Blatt. "Ich bin einfach aufgestanden und habe ihn umarmt." Vor dem Treffen habe er befürchtet, seinen Retter gar nicht wiederzuerkennen; schließlich habe er kaum noch Erinnerungen an den Tag. "Aber als wir uns hingesetzt und miteinander gesprochen haben, erinnerte ich mich an seine Stimme, an seine ganze Art."
Laybourn dagegen entsinnt sich nach eigener Aussage noch gut, wie die Situation auf der Brücke ablief. "Ich sah ihn schon von weitem, und ich wusste sofort, was er da oben wollte", sagte der inzwischen 31-Jährige. Viele Leute seien an diesem Tag unterwegs gewesen; "keiner blieb stehen, kaum einer sah hin. Dabei war es offensichtlich, dass er Hilfe brauchte."
Nach dem Vorfall verloren sich die Männer aus den Augen - bis Benjamin vor etwa zwei Wochen seine Kampagne startete. Dabei half ihm die Hilfsorganisation "Rethink Mental Illness", für die der 26-jährige Videoblogger nach eigenen Angaben als Botschafter arbeitet. Mehr als 50.000 Tweets wurden binnen weniger Tage unter dem Hashtag #findmike abgesetzt. Einen davon las Laybourns Verlobte, die offenbar gleich wusste, wer der ominöse "Mike" von der Brücke sein musste. "Sie hat mich sofort angerufen", sagte Laybourn der BBC.
Wahnvorstellungen und Stimmen im Kopf
Zu seinem Suizidversuch getrieben hatte Benjamin laut "Telegraph" eine schwere psychische Störung. Seit seiner Kindheit habe er Stimmen gehört und später weitere Wahnvorstellungen entwickelt. Weil er sich lange geschämt habe, darüber zu sprechen, sei bei ihm erst mit 20 Jahren eine chronische schizoaffektive Störung diagnostiziert worden - früher hätten Psychiater von einer Psychose gesprochen. Kurz nach diesem Befund versuchte er, sich das Leben zu nehmen.
Über die Begegnung mit seinem bis vor kurzem anonymen Retter habe er in den Jahren danach viel nachgedacht, sagte Benjamin dem "Telegraph". "Es war ein Wendepunkt auf dem Weg zu meiner Genesung". Erst danach habe Benjamin professionelle Hilfe erhalten, sagte eine Rethink-Sprecherin SPIEGEL ONLINE. Er habe einige Zeit im Krankenhaus verbracht, Medikamente bekommen, sich einer Verhaltenstherapie unterzogen. Heute gebe es zwar immer noch Phasen, in denen es ihm nicht gut gehe - so habe ihn zum Beispiel die große Aufmerksamkeit nach der #findmike-Aktion sehr angestrengt. Ansonsten aber führe er ein normales Leben.
"Es ist toll, dass Jonny auf diese Weise mit der Sache abschließen kann", sagte Laybourn dem "Telegraph". "Dass er seine Dankbarkeit zeigen konnte, das war für mich das Beste. Deshalb bin ich zu dem Treffen gekommen."
Nur eines, berichtet das Blatt, hätten die beiden Männer bei ihrer Begegnung im Pub nicht geschafft: Endlich die Tasse Kaffee zu trinken, die Laybourn dem unglücklichen Benjamin auf der Waterloo Bridge versprochen hatte. Offenbar plauderten die beiden so intensiv, dass sie nicht ans Ordern von Getränken dachten. Das allerdings soll demnächst nachgeholt werden. "Wir verstehen uns wirklich gut", sagte Benjamin dem Blatt. "Das mit dem Kaffee schaffen wir noch."