Elterncouch Lehrer, bringt uns Leben bei!

Hausaufgabe? Sonnenuntergang ansehen!

Hausaufgabe? Sonnenuntergang ansehen!

Foto: Michael Meißner

Kinder sind manchmal wahnsinnig süß - und manchmal machen sie uns wahnsinnig. Für SPIEGEL ONLINE legen sich eine Mutter und zwei Väter regelmäßig auf die Elterncouch.

Juno Vai schreibt auf der Elterncouch  im Wechsel mit Theodor Ziemßen und Jonas Ratz.

Geht allein am Strand spazieren! Seid glücklich! Ein italienischer Lehrer gab seinen Schülern ganz besondere Hausaufgaben auf. Sie sollten seine Schüler inspirieren - und sorgten für Aufsehen. Warum sind nicht mehr Pädagogen so?

Auf den ersten Blick ist Cesare Catà einer dieser weichgespülten Typen. Lockenschopf, Philosophenbrille, seltsame Hüte. Auf seiner Facebook-Seite  postet der Philosophie-Lehrer und Dozent für englische Literatur Gedichte von Rainer Maria Rilke und schwärmt von "Der Club der toten Dichter".

Ein Lehrer, der diesen Film liebt? Es wäre ein peinliches Klischee, wenn er die Message nicht so ernst nähme. Das zeigt eine Hausaufgabe, die er seinen Schülern in diesem Jahr über die Sommerferien stellte: Statt die jungen Leute mit einer ellenlangen Literaturliste zu langweilen, gab er ihnen 15 Anregungen mit auf den Weg. Aber was für welche!

"Geht morgens ab und zu allein am Strand spazieren", liest sich ein Auftrag des Pädagogen. "Schaut, wie die Sonne sich auf dem Wasser spiegelt, denkt an die Dinge, die ihr am meisten liebt in eurem Leben und seid glücklich."

Wild und ohne Scham tanzen sollten die Jugendlichen außerdem. Schweigen, durchatmen, dankbar sein. "Seid heiter wie die Sonne, unbezähmbar wie das Meer", lautet eine weitere Aufgabe. Viel Lesen sei ausgezeichnet, "aber nicht, weil ihr es müsst, sondern weil es die beste Form der Revolte ist, die ihr habt".

"Aufrichtigkeit und Anmut"

Ein Bücherrebell ist dieser junge Lehrer. Und jemand, der offenbar viel von Liebe hält: "Wenn ihr eine Person findet, die euch bezaubert, sagt es ihr mit aller Aufrichtigkeit und Anmut, derer ihr fähig seid." Es sei unwichtig, ob das Objekt der Begierde diese Ehrlichkeit zu schätzen wisse. "Wenn nicht, war er oder sie nicht für euch bestimmt. Andernfalls wird der Sommer 2015 der goldene Pfad werden, auf dem ihr gemeinsam geht."

Falls alles schief laufen sollte, empfiehlt Catà Punkt acht der Liste: "Treibe viel Sport."

Manche mögen das lächerlich finden, andere werden vielleicht fragen: "Und was ist mit dem Lehrplan?" Ich habe an etwas ganz anderes gedacht, als ich die Liste sah. Ich habe mich an meine Tochter erinnert, als sie in die zweite Klasse ging. Sie saß auf ihrem viel zu großen Schreibtischstuhl und weinte bitterlich. "Ich hab so Schulstress", schniefte sie und berichtete verzweifelt von den völlig überzogenen Erwartungen, die auf ihrer neuen Schule herrschten.

Wir waren gerade aufs Land gezogen, der Kulturschock war beträchtlich. In der Großstadt kümmerten sich zwei Lehrer, ein Sozialpädagoge und mehrere Sozialarbeiter um die Erstklässler. Es gab eine eigene Küche, für jedes Kind ein Instrument, Beamer und andere technische Finessen für die Lehrer, eine fröhlich-chaotische Hortbetreuung, einen riesigen Spielplatz, Sportgeräte, ein Abenteuerschwimmbad nebenan.

"Hinterfragt jedes Konzept"

Nun war Bulimie-Lernen angesagt: Überflüssige Fragen wurden ungern gehört, dafür wurden ein gestochen scharfes Schriftbild und "schön Malen" honoriert. Waren in der einen Schule Kreativität und didaktische Selbstverwaltung des Kindes gefragt, setzte die zweite auf passiven Wissenskonsum. Die Kinder stopften den Lehrstoff in sich rein, würgten ihn brav wieder hoch, wenn sie abgefragt wurden und vergaßen das Gelernte schnell wieder.

Am Gymnasium ging es dann nahtlos so weiter. Dass die Ausstattung miserabel ist, es kaum Computer gibt und die Sanitäranlagen in einem desolaten Zustand sind - geschenkt. Es sind die Inhalte, die fassungslos machen. Da werden 50 Jahre alte Bücher im Unterricht benutzt. Das mag für Latein tragbar sein, aber sicher nicht für Biologie. Auch die pädagogischen Prinzipien, so überhaupt vorhanden, stammen aus der Mitte des 20. Jahrhunderts: Frontalunterricht, Repetition, Hausarbeiten in so beträchtlichem Umfang, dass Sport oder Klavierunterricht am Nachmittag oft ausfallen müssen.

Wie gern also sähe ich zumindest in einem Fach einen Lehrer wie Catà, einen der aufrichtig versucht, Wissen über persönliches Interesse und Liebe zum Sujet zu vermitteln. Ist leider viel zu oft nicht der Fall.

Müssen wir uns also damit abfinden, dass es Schicksal ist, ob unsere Kinder den einen Lehrer finden, der sie inspiriert, der ihnen Spaß am Lernen vermittelt und eine Tür öffnet? Oder dürfen wir verlangen, dass solche Pädagogen aus dem Studium hervorgehen? Als Eltern können wir derzeit wohl vor allem eins tun: Aufpassen, rechtzeitig intervenieren und Punkt zehn von Catàs Liste beherzigen: "Schaut euch eure Aufzeichnungen aus unserem Unterricht an: Hinterfragt jeden Autor und jedes Konzept und wendet die Ergebnisse auf euer eigenes Leben an."

Cesare Catàs 15 Aufgaben

1. Geht morgens ab und zu ganz allein am Strand spazieren: Schaut, wie sich die Sonne auf dem Wasser spiegelt. Denkt an die Dinge, die ihr am meisten liebt in eurem Leben - und seid glücklich.

2. Versucht, alle neuen Begriffe, die ihr dieses Jahr gelernt habt, zu verwenden: Je mehr Dinge ihr benennen könnt, desto mehr könnt ihr denken, je mehr ihr denkt, desto freier seid ihr.

3. Lest, soviel ihr könnt. Aber nicht, weil ihr es müsst. Lest, weil der Sommer euch zu Abenteuern und Träumen inspiriert und ihr euch beim Lesen fühlt, wie Schwalben beim Fliegen. Lest, weil es die beste Form der Revolte ist, die ihr habt. (Wenn ihr Buchempfehlungen braucht, wendet euch an mich).

4. Meidet alle Dinge, Situationen und Personen, die euch runterziehen oder ein leeres Gefühl hinterlassen. Sucht anregende Situationen und die Gesellschaft von Freunden, die euch bereichern, euch verstehen und euch für das schätzen, was ihr seid.

5. Wenn ihr traurig oder ängstlich seid, macht euch keine Sorgen: Wie alle wundervollen Dinge versetzt der Sommer die Seele in Aufruhr. Versucht, Tagebuch zu schreiben, um festzuhalten, wie es euch geht (wenn ihr wollt, lesen wir es im September gemeinsam).

6. Tanzt. Ohne Scham. Auf der Tanzfläche, auf der Straße oder in eurem Zimmer. Der Sommer ist ein Tanz und es wäre albern, nicht mitzutanzen.

7. Schaut euch mindestens einmal den Sonnenaufgang an. Schweigt und atmet durch. Schließt die Augen, seid dankbar.

8. Treibt viel Sport.

9. Wenn ihr eine Person findet, die euch bezaubert, sagt es ihr mit aller Aufrichtigkeit und Anmut, derer ihr fähig seid. Es ist egal, ob er oder sie das versteht. Wenn nicht, ist er oder sie nicht euer Schicksal. Ansonsten wird der Sommer 2015 der goldene Pfad werden, auf dem ihr gemeinsam geht (und falls es schief geht, haltet euch an 8.).

10. Schaut euch eure Aufzeichnungen aus unserem Unterricht an: Hinterfragt jeden Autor und jedes Konzept und wendet die Ergebnisse auf euer eigenes Leben an.

11. Strahlt fröhlich wie die Sonne, seid unzähmbar wie das Meer.

12. Verwendet keine Kraftausdrücke und verhaltet euch immer wohlerzogen und höflich.

13. Schaut Filme mit herzzerreißenden Dialogen (nach Möglichkeit auf Englisch), um eure sprachlichen Fähigkeiten und die Fähigkeit, zu träumen, zu verbessern. Schaut euch den ganzen Film bis zum Abspann an. Verinnerlicht das Gesehene, während ihr euren Sommer lebt.

14. Im gleißenden Licht oder in heißen Nächten: Träumt davon, wie euer Leben sein soll und kann. Sucht im Sommer nach der Kraft, nie aufzugeben. Und tut alles, um diesen Traum zu verfolgen.

15. Benehmt euch ordentlich.

Zur Autorin
Foto: Michael Meißner

Juno Vai,
Mutter von Vic (15) und Vito (12)

Liebstes Kinderbuch: der Pinguin-Comic von meinem Sohn

Nervigstes Kinderspielzeug: alles mit komplizierten Anleitungen

Erziehungsstil: Liebe, Verlässlichkeit, Respekt

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