Warum abgewanderte Ostdeutsche ihre Heimat feiern – und zurück ziehen
Dieser Beitrag wurde am 02.03.2018 auf bento.de veröffentlicht.
Jammer-Ossi, Besser-Wessi, No-Go-Areas und Kapitalismus-Opfer – obwohl die Mauer zwischen Ost und West mittlerweile länger weg ist, als sie stand, wirkt es manchmal, als blieben die Vorurteile auf beiden Seiten für immer.
Dabei hat sich verdammt viel getan zwischen Ost und West. Während die Menschen direkt nach dem Mauerfall geradezu aus dem Osten flohen, ist die Ost-Westwanderung heute ausgeglichen. (SPIEGEL ONLINE)
Eine Gruppe, die beide Seiten kennt, macht sich in den aktuellen Zahlen dabei besonders bemerkbar: ostdeutsche Rückkehrer.
Drei von vier Ostdeutschen, die im Westen leben, sollen heute konkrete Pläne haben, wieder in den Osten zu ziehen. In Facebook-Gruppen wie "Ostdeutsche fernab der Heimat" oder "Weimar around the world" treffen sie sich, und erzählen sich gemeinsam von ihren Träumen.
Das thüringische Eichsfeld hat übrigens die höchste Rückkehrer-Quote in ganz Deutschland: Jeder Dritte zieht hier irgendwann wieder in die Heimat.
Wer sind diese Rückkehrer? Welche Geschichten können sie von ihrem zweifachen Grenzübertritt, der keiner war, heute erzählen? Wir haben vier von ihnen befragt.
1 Steffen, 28, studierte in Marburg und lebt heute in einem besetzten Haus in Potsdam
Ich bin in einem kleinen Ort bei Potsdam aufgewachsen. Nach der Schule ging ich für ein Jahr nach Montevideo, Uruguay, um dort in einem Frauenhaus zu arbeiten. Schon während der Schulzeit hatte ich ein Jahr dort verbracht, und in zwei Wochen fliege ich wieder hin. Uruguay, würde ich sagen, ist mittlerweile für mich zu einer Art zweiten Heimat geworden.
Nach dem Jahr in Südamerika ging ich zum Politik-Studium nach Marburg. Dass ich nun in einem Teil Deutschlands lebte, der historisch anders gewachsen war als jener, in dem ich aufgewachsen war, bemerkte ich zunächst kaum.
Lass uns Freunde werden!
Ins zentral gelegene Marburg ziehen natürlich Menschen aus jeder Region, vielleicht lag es daran. Aber auch als ich vor zwei Jahren in meine ostdeutsche Heimat, nach Potsdam, zurück gezogen bin, habe ich das nicht als Rückkehr in den Osten empfunden – sondern eher als Heimkehr; zurück zur Familie, zur Oma, zu Menschen, die ich gern in meiner näheren Umgebung weiß.
Ganz ehrlich: Bei dem Wort "Ostrückkehrer" habe ich sofort die verlassene Prärie vor Augen, aber das ist ja gar nicht so. Die Region um Berlin zum Beispiel profitiert unglaublich durch die Magnetwirkung der Hauptstadt. Schon in den 90ern gab es hier in Potsdam etwa 40 besetzte Häuser, heute sind davon noch immerhin zehn, größtenteils legalisierte, übrig. In einem wohne ich selbst.
Im Erdgeschoss dieser Häuser gibt es selbstverwaltete Kneipen, in denen Bier für einen Euro ausgeschenkt wird. Die Leute arbeiten oftmals, weil ihnen die Sache am Herzen liegt, nicht für Geld. Das gab es in Marburg weniger. Dort wird man bezahlt.
2 Clara Ehrenwerth, 31, hat nach dem Abitur in Erfurt in Hildesheim kreatives Schreiben studiert und lebt heute als Theatermacherin und freie Autorin in Leipzig.
Eigentlich sehe ich mich nicht als Ost-Rückkehrerin. Das klingt ja, als hätte ich es vorher im Osten nicht mehr ausgehalten. Ich bin aber 2007 nicht aus wirtschaftlicher Not oder Perspektivlosigkeit in den Westen gegangen, sondern weil ich in Hildesheim einen Studienplatz bekommen hatte. Hätte man in Cottbus "Kreatives Schreiben" studieren können, ich wäre vielleicht auch dorthin gezogen.
Dass es einen Unterschied zwischen Ost und West gibt, habe ich erst bemerkt, als ich in Hildesheim plötzlich ständig darauf angesprochen wurde, dass ich aus dem Osten komme. Außerdem war ich überrascht, wie wenig meine neuen Freunde aus den alten Bundesländern über die DDR wussten. Plötzlich musste ich Leuten, die so alt waren wie ich und im selben Land aufgewachsen sind, ein Vokabular erklären, das ich als bekannt vorausgesetzt hatte. Viele wussten zum Beispiel nicht, was ein IM ist, also ein Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi.
Clara Ehrenwerth
Unterschiede zwischen Nord und Süd werden immer als liebenswerte Schrullen dargestellt: "Fischköppe da, Lederhosenträger dort". Wenn ein Ossi dargestellt wird, dann entweder mit Trabi oder als Neonazi.
Auffällig finde ich, dass deutsche Geschichte in den Medien immer aus BRD-Perspektive erzählt wird. Dann ist die BRD automatisch "das Normale", die DDR "das Andere". "Deutsch" wird mit "westdeutsch" gleichgesetzt, "ostdeutsch" ist das Abweichende, das immer erst erklärt werden muss. Was sicher auch daran liegt, dass keines der Leitmedien in Ostdeutschland produziert wird.
Dass ich zurück nach Leipzig gezogen bin, hing vor allem mit der Aussicht zusammen, hier in einer lichtdurchfluteten Gründerzeitwohnung mit Balkon zu wohnen – statt für die gleiche Miete in einer anderen Großstadt stehend in einem ausgebauten Etagenklo zu schlafen. Und natürlich damit, dass Leipzig momentan die angenehmste und aufregendste Stadt im ganzen Land ist.
3 Marcel Rückert, 19, ist während der Schulzeit durch die Trennung seiner Eltern in den Westen gezogen – und später eigenständig zurückgekehrt.
Über die Grenze, die schon lange keine mehr war, bin ich zum ersten Mal mit 15 getreten: Als sich meine Eltern trennten, zog ich aus meinem Heimatort Letzlingen in Sachsen-Anhalt in den hohen Norden nach Lüneburg.
Marcel Rückert
Lüneburg war eine Studentenstadt mit bestens erhaltener Altstadt. Nicht nur im Stadtbild traf hier das Junge auf das Alte, auch die Menschen gaben sich hier generationenübergreifend die Hand.
Schon zwei Jahre später, mit 17, zog es mich zurück in den Osten, nach Volkenroda in Thüringen. In einem Kloster absolvierte ich ein ein freiwilliges Jahr - bei der evangelischen Jugend, bei der ich mich engagiere, seit ich 13 bin. Ich konnte erst nichts mit Religion anfangen, fand es aber gut, wie sich die Kirche hier im Osten gegen rechte Kräfte stellt. Der Fremdenhass war in Volkenroda viel stärker zu spüren als im Westen.
Ich frage mich schon, wie man den Osten "retten" kann. Es heißt immer, wir müssen viel mehr miteinander reden. Ich glaube da nicht dran. Reden ist aus meiner Sicht schon die zweite Stufe, da muss aber noch etwas vorher passieren.
Nehmen wir Björn Höcke. Bei ihm kann Reden nichts verändern. Ich würde ihn dagegen mit auf einen Trip der evangelischen Jugend nehmen, für die ich arbeite: Neun Tage im Kanu durchs Grüne. Zusammen abwaschen, putzen, wandern. Echte Gemeinschaft, das sollte Höcke sich mal angucken.
Lebst du wie ein typischer Ossi?
So ließen sich vielleicht auch "besorgte Bürger" umstimmen. Letztlich glaube ich aber: Sie müssen sich selbst helfen. Das Problem ist, dass viele Menschen im Osten immer noch das Gefühl haben, es würde über ihre Köpfe hinweg bestimmt. Damit sich das ändert, braucht es hier Leute, die sich gegen den Strom stellen – und den Menschen das Gefühl geben: Ihr könnt zwischen verschiedenen Dingen wählen.
Aber die dürfen nicht von Außen kommen. Wir Ossis müssen es selber schaffen. Vielleicht ist auch das ein Grund, warum ich vor einer Woche wieder in meine Heimat, nach Sachsen-Anhalt, gezogen bin.
4 Juliane Jesse, 29, zog es nach ihrer Jugend in Magdeburg nach Bielefeld und Chile. Heute ist sie zurück in Sachsen-Anhalt und unterstützt junge Journalistinnen.
Bevor ich Ostdeutschland verlassen habe, war das nie wirklich ein Thema für mich. Dass es da doch den einen oder anderen Unterschied gibt, ist mir erst bewusst geworden, nachdem ich einige Zeit auf der anderen Seite war.
Denn es gibt sie schon, die Unterschiede. 2012 zog ich nach Bielefeld. Ich sah hier zum ersten Mal eine Frau mit Kopftuch innerhalb Deutschlands, in Sachsen-Anhalt gab es das damals einfach noch nicht. Und statt der paar Fetzen Russisch, die man im Osten immer mal hört, sprachen sie im Westen ganz verschiedene Sprachen. In meinem Studiengang, "Inter-Amerikanische Studien", gab es aber Kommilitonen, die kamen von deutlich weiter her. Da war der Ost-West-Unterschied kein Thema mehr.
Juliane Jesse
Seit 2015 bin ich wieder in Magdeburg. Inzwischen sind mir die Unterschiede zwischen Ost und West deutlich präsenter. Da sind die 25 Prozent für die AfD bei der Landtagswahl 2016. Da ist offenkundiger Fremdenhass – der gehört im Osten leider oft zum Alltag.
Andererseits gibt es hier niedrige Mieten und geringere Lebenskosten. Das zeigt: Der Osten hat eigentlich Potenzial. Der Osten sollte sich besser verkaufen, dann würden ihn in der Folge auch viel mehr Leute bereisen und kennenlernen. So würden viele auch ihre Vorurteile abbauen. Eine erste Hürde, glaube ich, wäre dann schon mal genommen.
5 Anica Kehr, 33, kommt aus Erfurt, hat im Westen Kunst studiert. Danach ist sie zum Leben und Arbeiten nach Leipzig gezogen.
Ich kann nicht wirklich sagen, warum ich mich im Osten wohler fühle. Es ist eher ein angenehmeres Miteinander als ein sogenanntes Heimatgefühl. Oder der Begriff Heimat ist in meinem Kopf zu sehr familiär oder nostalgisch besetzt.
Was ich an Leipzig mag, ist dieses Unverkrampfte. In Berlin hat jeder ein Projekt, in Westdeutschland ist mehr Ego im Raum. Man gesteht sich weniger Fehler ein.
Ich glaube, in Leipzig muss man niemanden beeindrucken. Das Leben ist hier günstiger, vielleicht ein wenig einfacher. Vielleicht führt das aber auch dazu, dass man hier „zu“ bequem wird und sich festsetzt.
Anica Kehr
Abgesehen von der geografischen Rückkehr, war mein Umzug nach Leipzig auch gefühlt eine Heimkehr. Vor allem auch, weil ein großer Teil meines Freundeskreises aus Erfurtern besteht, die innerhalb der letzten zehn Jahre nach Leipzig kamen.
Ich habe Westdeutschland von vielen Seiten gesehen, habe in Düsseldorf, Marburg, Mainz und Münster gewohnt und studiert.
Ein absurdes Bild werde ich nie vergessen – meinen Radweg von meiner Wohnung zur Kunstakademie in Düsseldorf. Der führte mich über die "Kö", also: die Königsallee, vorbei an den Läden von Gucci und Prada, den im Halteverbot parkenden Maseratis und den gelifteten Pelzmantel-Ladies, die am Vormittag im Schutze ihrer Riesensonnenbrillen Cremant-trinkend in den Cafés saßen. Für mich hat das alle West-Klischees erfüllt, die man im Osten lernt.
Einmal haben mein Kumpel Lukas und ich mitgespielt. Als Lukas sein erstes großes Bild verkauft hat, sind wir zu Burberry rein, in alten Malerklamotten und haben uns dem entsetzten Blick der Verkäuferin ausgeliefert. Der entspannte sich aber sofort, als Lukas seinen Mantel mit 800 Euro in bar bezahlte.