
Christian Frommert: Kampf gegen die Magersucht
Magersüchtiger Ex-Telekom-Manager Herr Frommert löst sich auf
Um 5.30 Uhr ist er wieder in den Keller gegangen, obwohl er sich eigentlich zurücknehmen wollte. Hat sich auf sein Fahrrad gesetzt, in die Pedale getreten, fast zwei Stunden lang trainiert, 350 Kalorien verbrannt, vielleicht 400. Hat geduscht, E-Mails geschrieben, telefoniert, erste Termine wahrgenommen. Dann ist er ins Auto gestiegen und nach Frankfurt gefahren.
Als Christian Frommert um 13 Uhr zum Gespräch erscheint, ist sein Magen leer. "Die erste Mahlzeit nehme ich momentan bei den 'Heute'-Nachrichten zu mir", sagt er. "Gemüse mit ein bisschen Magerquark."
Frommert ist 46 Jahre alt und 1,84 Meter groß. Er trägt einen Rollkragenpullover und eine Damenjeans, Slim Fit, Größe 27/28. Ohne Gürtel würde die Hose trotzdem rutschen. Frommert weiß nicht genau, wie viel er wiegt. Vielleicht 45 Kilogramm, vielleicht weniger, vielleicht mehr. Er will es nicht wissen, weil genaue Zahlen ihn nur unter Druck setzen würden.
Um sein Gewicht zu überprüfen, hat er andere Methoden. Er krempelt den Ärmel hoch und umschließt mit der rechten Hand mühelos seinen linken Oberarm.
Christian Frommert leidet seit mehr als fünf Jahren an Magersucht. Weihnachten 2009 wog er nur noch 39 Kilogramm und war dem Tode nahe. Völlig geschwächt schaffte er es nicht mehr die Treppenstufen zu seiner Wohnung hinauf. Ein Freund musste ihn tragen. Seine Haut war rissig, die Haare dünn und kraftlos, die Schulterknochen stachen spitz hervor. Fragt man eine enge Freundin, was ihr beim Anblick des ausgemergelten Mannes durch den Kopf ging, sagt sie: "Bilder aus Auschwitz."
Heute ist Christian Frommert noch immer zu dünn. Aber er sieht gesünder aus, vor allem im Gesicht. Er ist auf einem guten Weg, den Kampf gegen die Magersucht zu gewinnen. Über seine Auseinandersetzung mit der Krankheit hat er nun ein Buch geschrieben. "Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, alles ist wieder gut", sagt Frommert. Der Stress und die Unsicherheit über die öffentlichen Reaktionen haben alte Reflexe aufbrechen lassen: wenig essen, viel trainieren. "Es ging mir schon besser, aber es ist noch immer in Ordnung."
Jedes Gramm unterliegt seinem Diktat
An Magersucht erkranken überwiegend Mädchen und junge Frauen, nur einer von zehn Betroffenen ist männlich. Es ist eine komplexe Krankheit, die Ursachen sind vielfältig. Mangelndes Selbstwertgefühl spielt häufig eine Rolle.
Frommert war als junger Mann übergewichtig. Für seine erste Freundin beschloss er abzunehmen. Je schlanker er wurde, desto attraktiver fühlte er sich, desto mehr Bestätigung bekam er. Er hat, so beschreibt er es in seinem Buch, den Drang sich für andere aufzuopfern, um Anerkennung zu bekommen. Er denkt: Wenn ich nichts leiste, mag mich niemand. Die Beziehung zu seiner Mutter ist von einer großen Vereinnahmung und Suche nach Anerkennung geprägt. Die Magersucht war, so Frommerts Erklärung, ein Ausweg. In der Krankheit ist er sein eigener Herr, hier hat er scheinbar alles unter Kontrolle, jedes Gramm Fett unterliegt seinem Diktat.
Beruflich hatte er immer Erfolg. Er war Kommunikationsdirektor beim Team T-Mobile und verkündete 2006 die Suspendierung des Radsporthelden Jan Ullrich wegen Dopingverdachts. Es war eine hektische Zeit. Frommert arbeitete viel und aß wenig. Als er 2008 aufhörte und eine Auszeit in Südafrika nahm, startete er seinen "Frommert-Triathlon": Radfahren, Laufen, Hungern.
Er dachte, er übernehme die Kontrolle über seinen Körper. In Wahrheit entglitt sie ihm.
Magersüchtige sehen nicht ein, dass sie krank sind. Bei Frommert ging es so weit, dass seine Schwester und sein Schwager ihn für unzurechnungsfähig erklären lassen wollten - vergeblich. "Ich fand mich ja in Ordnung", erinnert er sich. "Ich habe in den Spiegel geguckt und mich gefragt: Was haben die denn? Ich dachte stattdessen: Gestern war der Knochen aber noch deutlicher zu sehen. Habe ich zugenommen?" Auch ein Klinikaufenthalt konnte ihm nicht helfen.
Frommert fragte sich zwar häufig: Will ich wirklich so weiterleben? Aber am nächsten Tag schnitt er wieder das wässrige Mittelstück aus der Gurke heraus und schmiss es weg.
Die Magersucht gab ihm Sicherheit, die er trotz aller körperlichen Leiden nicht aufgeben wollte. Er aß immer das Gleiche (Obst mit Magerquark, Gemüse mit Kräuterdip), immer zur gleichen Zeit (gegen 14.30 und 19 Uhr), immer mit demselben Besteck (Laborlöffel, brauner Ikea-Teller, grünes Müslischälchen aus den Neunzigern). Die Gefahr verdrängte er: "Christian Frommert verhungert doch nicht!"
"Alles verschwindet aus einem"
Er arbeitete permanent weiter. Im Winter 2010 flog er beruflich nach Vancouver zu den Olympischen Winterspielen. Genießen konnte er seine Lieblingsstadt nicht. Größer war die Sorge, wo die nächste Toilette ist, weil er das Wasser überhaupt nicht halten konnte.
Den Ausweg fand er schrittweise. Der Tod seines Vaters im Herbst 2010 ließ ihn nachdenken. Ein eigenes Haus wurde zu einer neuen Heimat. Das Verhältnis zu seiner Mutter entspannte sich. Eine Therapeutin hat ihm sehr geholfen.
Wer hungert, löst sich auf. Die Folgen spürt Frommert bis heute: Noch immer kann er das Wasser kaum halten, in manchen Nächten muss er mehr als 20-mal zur Toilette. Noch immer brechen seine Rippen, wenn er sich stößt. Sexuelles Verlangen spürt er seit Jahren nicht mehr. "Alles verschwindet aus einem", sagt Frommert.
Er arbeitet mittlerweile als selbstständiger Kommunikationsberater, hilft unter anderem Oliver Bierhoff, am Image zu feilen. Ein normales Verhältnis zu Essen werde er vermutlich nie entwickeln, so Frommert. Aber ein normaleres - das ist sein Ziel.
Die Fallen lauern im Alltag. Im Supermarkt lobte ihn eine Verkäuferin: Sie haben aber richtig zugenommen! Für Frommert eine Katastrophe. Er hungerte zwei Tage lang.
Als das Treffen in Frankfurt nach vier Stunden endet, hat Christian Frommert noch immer nichts gegessen.