Niedergang einer Schaustellerfamilie Achterbahn des Lebens
Hamburg/Berlin - Mit breiten schwarzen Kajalstrichen hat Pia Witte ihre großen, dunkelbraunen Augen umschminkt. Ein Trick, um abzulenken von den Falten in ihrem Gesicht. Die halbe Nacht hat sie wieder wach gelegen. Sie schläft kaum noch, seit ihr Sohn Marcel in Peru festgenommen wurde. Fünf Jahre und acht Monate ist das jetzt her.
Um vier Uhr früh rief Marcel diesmal bei ihr an, wie er es oft tut. Er weinte. Er braucht Geld. Er hat Angst. Fast so sehr wie seine Mutter.
Marcel Witte sitzt seit November 2003 in einem Gefängnis am Stadtrand von Lima. Es wurde einst für 500 Häftlinge konstruiert, heute sind dort mehr als 3000 Gefangene eingepfercht. Rinnsäle mit Exkrementen und Essensresten durchziehen das Knastgelände. Wer als Europäer dort überleben will, muss sich für 1000 Dollar eine Zelle kaufen, im Monat kostet sie 250 Dollar Miete. Von innen lässt sie sich abschließen, so kann man sich vor meuternden Häftlingen und der Willkür der Wärter schützen. Der tägliche Kampf ums Überleben ist damit noch nicht gewonnen. Ein Kampf, den Peter Dörfler in seinem jetzt aktuellen Kinofilm "Achterbahn" dokumentiert hat.
"Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt richtig geschlafen habe - aus Angst, nicht zu hören, wenn mein Junge anruft", sagt Pia Witte SPIEGEL ONLINE. Doch wenn sie das Telefon hört, hat sie Angst davor, was sie erwartet. Ist Marcel verletzt? Hat er - wie schon einmal - versucht, sich das Leben zu nehmen? Lebt er überhaupt noch?
Die Schuld für den permanenten Druck, die Angst, die Ungewissheit gibt sie Norbert Witte - Marcels Vater.
Norbert Witte ist ein großer, kompakter Mann mit vollem Haar und ergrautem Schnauzer. Ein Kettenraucher. Gewinnendes Lächeln, leicht vorstehende Augen. Ein kerniger Typ mit dem Herzen am rechten Fleck, sagen die einen. Ein Hochstapler, sagen die andren. Witte stammt aus einer vermögenden deutschen Schaustellerfamilie. Sein Großvater Otto war ein berühmter Jahrmarktkünstler, der sich einst den Titel "König von Albanien" ergaunerte. Von ihm scheint der gebürtige Hamburger den Hang zum Größenwahn geerbt zu haben.
Vom größten Rummel in die Insolvenz - und ab nach Peru
Norbert Witte wollte das ganz große Rad drehen: Nach der Wende träumt er davon, aus dem VEB Kulturpark "Plänterwald", zu DDR-Zeiten ein beliebter Vergnügungspark, den größten Rummelplatz im wiedervereinten Deutschland zu machen. Der "König der Karusselle", wie ihn seine Kumpel nennen, investiert. Offiziell wird seine Frau Betreiberin des "Spreeparks". Doch nach anfänglich guten Geschäften streicht der Berliner Senat 3000 Parkplätze, die Besucher bleiben weg. Der "Spreepark" geht Pleite.
Im Dezember 2001 muss Geschäftsführer Hans Ludwig Trümper Insolvenz anmelden. Auf dem Land Berlin und den Banken lastet ein Schuldenberg von insgesamt 15 Millionen Euro.
Im Januar 2002 kehrt Witte seiner Heimat den Rücken und geht nach Peru - samt Familie und sechs Fahrgeschäften. In Lima will Norbert Witte einen Neuanfang wagen, wieder das große Rad drehen: Er plant, ein Amüsiergelände zu eröffnen, den Lunapark, direkt vor einem Metro-Supermarkt. Er schickt seine Frau mit den fünf Kindern vor.
Es ist das erste Mal, dass sich Pia Witte blind auf ihren Ehemann verlässt. Anders als bislang hat sie sich aus den Plänen und der Vorbereitung für den neuen Lebensabschnitt herausgehalten, nicht die Regie übernommen. Er habe ein Haus gefunden, alles sei geregelt, versichert ihr Norbert Witte. Es wird die Enttäuschung ihres Lebens.
Als Pia Witte in dem ihr völlig fremden Land ankommt, ist nichts geregelt. Gar nichts. Sie sucht für die Familie ein Zuhause, lässt sich dabei mehrfach über den Tisch ziehen, findet aber schließlich in einem der typischen Reichen-Ghettos eine prächtige Villa. Es ist der Beginn der Misere. Das Ersparte ist knapp.
Der peruanische Zoll verweigert die Ausgabe der kompletten Fahrgeschäfte. Peu à peu geben die Behörden nur Teile aus den Containern frei, so dass keine Achterbahn, kein Riesenrad am Stück aufgebaut werden kann.
"Mein Mann und Rauschgift? Er muss am Ende gewesen sein"
Der Absturz in die Armut vollzieht sich rasch. Pia Witte hat nach wenigen Monaten Probleme, die Familie zu ernähren. Mit vier ihrer fünf Kinder fliegt sie schließlich zurück nach Deutschland. Ihr Mann und der damals 21-jährige Sohn Marcel bleiben in Lima. Norbert Witte - verschuldet und verzweifelt - lässt sich über einen Bekannten aus Berliner Zeiten als Drogenkurier der peruanischen Mafia anheuern. Pia Witte ahnt in Deutschland nichts davon.
"Mein Mann und Rauschgift? Der meckerte doch schon, wenn die Kinder mal rauchten", sagt Pia Witte. "Er muss wirklich völlig am Ende gewesen sein."
Im zwölf Meter langen Stahlmast des Karussells "Fliegender Teppich" versteckt Witte 167 Kilogramm reines Kokain - gepresst in 211 kleine Platten, für einen Verkaufswert von zehn Millionen Euro. Er gibt vor, das Fahrgeschäft zur Reparatur nach Deutschland verschiffen zu müssen. Doch ein vermeintlicher Komplize entpuppt sich als V-Mann der Drogenfahndung, der Schmuggel fliegt auf.
Am 5. und 6. November 2003 werden Norbert und Marcel Witte verhaftet, der Vater in Berlin, der Sohn in Peru. Im Mai 2004 wird Norbert Witte vom Landgericht Berlin zu sieben Jahren Haft verurteilt. Nach vier Jahren, überwiegend im offenen Vollzug, wird er aus der JVA Plötzensee entlassen.
Den Sohn trifft es weitaus härter. "Beim Zugriff dachte ich: Ich bin gleich tot. Dann kam ich auf die Polizeistation - das war der Horror", sagt Marcel Witte, heute 28 Jahre alt und 15 Kilo leichter als bei seiner Festnahme. Drei Jahre muss er in einem heruntergekommenen Knast ausharren, bis er im Oktober 2006 von der Vierten Strafkammer des Gerichtes in Lima zu 20 Jahren Haft verurteilt wird.
"Man muss verdrängen, um den Schmerz auszuhalten"
"Ich habe mich auf Banditen eingelassen, Marcels Leben ruiniert und unsere Familie zerstört", sagt Norbert Witte SPIEGEL ONLINE. Er schämt sich dafür, hofft und tut alles, was er kann, um Marcel wieder nach Deutschland zu holen. Aber Norbert Witte ist anders als die Mutter seines Sohnes. Er kann nachts schlafen, er kann lachen, ausgehen. Das Leben muss weitergehen. "Man versucht, das zu verdrängen, um den Schmerz auszuhalten", sagt er und zieht trotz seiner sechs Herzinfarkte an einer Zigarette. Im Verdrängen ist Norbert Witte gut.
Niemand kennt den Schausteller so genau wie Pia Witte.
Die beiden lernen sich kennen, als sie 14 Jahre alt ist. Mit 19 Jahren heiratet die Tochter eines Autoscooter-Besitzers den zwei Jahre älteren Schausteller-Sohn. Zusammen kaufen sie das "Katapult", die "schnellste Achterbahn der Welt". Mehr als zwei Jahrzehnte lang ziehen sie - mitsamt ihren fünf Kindern - von Rummel zu Rummel. Schon bald haben sie acht Fahrgeschäfte und mehr als 40 Mitarbeiter.
Ihr Leben geht auf Talfahrt, als Witte in der Nacht zum 14. August 1981 den schwersten Kirmesunfall Deutschlands verursacht: Beim Versuch, auf dem Hamburger Dom seine Loopingbahn "Katapult" zu reparieren, gerät er mit einem Kran in die Flugbahn des Karussells "Skylab". Sieben Menschen kommen dabei ums Leben, 15 weitere werden zum Teil schwer verletzt. "Für diesen Unfall verantwortlich zu sein - das war das übelste Gefühl in meinem Leben", erinnert er sich.
Es folgen erfolgreiche Jahre - und der Offenbarungseid
Um seinen Ruf wieder herzustellen, muss das Ehepaar jahrelang hart ackern: Getrennt touren sie durch Europa. Pia Witte, damals 24 Jahre alt, reist mit sechs Fahrgeschäften alleine durch Jugoslawien, ein acht Monate altes Kind dabei, sie trägt die Verantwortung für 30 Angestellte.
Pia Witte, eine aparte, stolze Frau mit pechschwarzen Haaren, kostet es spürbar Kraft, über ihren gefangenen Sohn zu sprechen. Ihre Wohnung am Rande Berlins ist winzig, sie sitzt zwischen den Überbleibseln eines Lebens, das mal komfortabel war: Ölgemälde in schnörkeligen Rahmen, zierliche Kommoden, pompöse Gestecke aus Plastikblumen. Aber nichts von Wert. Für Marcel hat sie erst kürzlich wieder einen Ring ins Pfandhaus gebracht. "Ich bin am Ende - auch finanziell", sagt sie leise.
Den Gang zum Sozialamt anzutreten, den Offenbarungseid zu leisten, das hat sie nach einem Leben in der Selbständigkeit Überwindung gekostet. "Ich bekomme 300 Euro im Monat, wie soll man davon leben und gleichzeitig den Jungen unterstützen?" In ihrem Umfeld gibt es keine Verwandten, Freunde, Bekannte mehr, die sie nicht angepumpt hat, die ihr kein Geld zugesteckt haben.
Die Selbstvorwürfe, ihren Sohn beim Vater in Peru gelassen zu haben, zermürben die 51-Jährige. Als sie erfuhr, dass ihr Sohn inhaftiert wurde, kam sie schlagartig in die Wechseljahre, ergraute von einem Tag auf den anderen. "Marcel zurück in die Freiheit holen, das ist alles, wofür ich im Moment lebe."
Norbert Witte bleiben zwei Wohnwagen - und Optimismus
Die Sache mit Marcel hat ihrer zerrütteten Ehe den Rest gegeben. "Ich verzeihe ihm das nicht", sagt Pia Witte über ihren Mann, von dem sie mittlerweile geschieden ist. "Ich kann es einfach nicht."
Ihr Traum ist ein Imbissanhänger, mit dem sie sich selbständig machen kann. "Ich muss mein eigenes Geld verdienen, selbst für mich sorgen, sonst geh ich unter."
Ihr Ex-Mann kampiert in zwei Wohnwagen auf dem verwahrlosten Spreepark-Gelände. Seinen Unterhalt verdient er mit dem Bau von Holzbuden für Volksfeste. Wo einst der Autoscooter stand, hat er eine Werkstatt eingerichtet. "Die größten Buden auf dem Weihnachtsmarkt vor der Alexa in Berlin habe ich gebaut", sagt Norbert Witte und kann sich ein zufriedenes Grinsen nicht verkneifen.
Norbert Witte gibt nicht auf, ein letztes Mal will er das große Rad drehen. "Einmal Schausteller, immer Schausteller", sagt er und lacht. "Ich hab immer ganz viel oder gar nichts." Ob er in diesem Leben - auf dieser Achterbahn - noch einmal die Kurve kriegt? "Ich bin gespannt, ob ich es noch einmal nach oben schaffe."
So tief unten wie jetzt war Norbert Witte noch nie. Eltern seien da, um ihre Kinder zu schützen, sagt er. "Ich habe also komplett versagt." Ein Satz, der ihm nicht leicht über die Lippen geht. Ein Satz, der Pia Witte nicht tröstet.
Im Frühjahr hat sie ihren Sohn zuletzt im Gefängnis besucht. "Die Verzweiflung und Panik in den Augen meiner Mutter werde ich nie vergessen", sagt Marcel am Telefon.
Angst, die sich nicht wegschminken lässt. Mit keinem Make-up der Welt.
"Achterbahn" von Peter Dörfler: Kinostart 2. Juli