Star-Designer Antonio Marras "Ich produziere nur Fetzen"

Der Sarde Antonio Marras gehört zu den Stars der Fashionszene. Im Interview mit SPIEGEL ONLINE spricht der stoffverliebte Designer über die Kunst, aus alten Unterröcken Haute Couture zu machen - und erklärt, warum Modemacher heute keine Idole mehr sind.
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Fashion by Marras: "Als schlage der Blitz ein"

Foto: ? Benoit Tessier / Reuters/ Reuters

SPIEGEL ONLINE: Herr Marras, ist Mode ein oberflächliches Geschäft?

Antonio Marras: Das ist ein Klischee, das mit der Realität längst nichts mehr zu tun hat. Einem Designer geht es nicht nur um Chiffon oder den Unterschied zwischen Shantung und Duchesse.

SPIEGEL ONLINE: Auch nicht darum, wo gerade die coolste Party läuft?

Marras: … oder wen man zur eigenen Party einlädt, damit das am nächsten Tag in der Zeitung steht? Nein, das ist passé. Denken Sie an ein Genie wie Karl Lagerfeld. Ein Mensch mit Kultur, der diese Kultur in Kleider verwandelt. Das ist das, was ich mag - mit Kultur Mode zu machen. Ich möchte, dass meine Kleider in zehn Jahren genau so tragbar sind wie heute, und trotzdem authentisch bleiben.

SPIEGEL ONLINE: Aber ein Designer soll auch ein Popstar sein, oder?

Marras: Wir leben in einer Zeit, die immer neue Idole fordert. Früher waren das die Schauspieler, dann kamen die Designer an die Reihe. Aber ich glaube wirklich, das ist vorbei.

SPIEGEL ONLINE: Warum sind Sie Designer geworden?

Marras: Mein Vater hatte ein Stoffgeschäft in Alghero in Sardinien, wo ich geboren und aufgewachsen bin. Später wurde es dann ein Kleidergeschäft. Ich hatte schon ganz früh beschlossen, es weiterzuführen. Bis eines Tages jemand kam und mich bat, eine Kollektion zu zeichnen. Ich hab sofort ja gesagt, ohne zu überlegen. So hat's begonnen.

SPIEGEL ONLINE: Ihre Kreationen erinnern an Patchwork, Sie verwenden Stoffe und Schnitte unterschiedlichster Herkunft. Warum?

Marras: Ich bin Insulaner. Sardinien hat viele Herrschaften erlebt, hier waren die Römer, die Phönizier, die Griechen und die Araber. Jeder Eroberer hat die Insel geprägt. In der Architektur, im Handwerk und im Kunstgewerbe. Diese Mischung liebe ich, und die ist dann auch in meiner Arbeit zu sehen. Schon als Kind war ich zum Beispiel von der japanischen Kultur fasziniert. Japan, auch eine Insel.

SPIEGEL ONLINE: Sie verwenden bei Ihren Entwürfen auch gebrauchte Kleidungsstücke - das entspricht so gar nicht der Vorstellung von "Haute Couture".

Marras: Mich faszinieren Kleidungsstücke von Anno Dazumal. Ich stell mir immer vor, wer sie einmal getragen hat und warum. Ich kann sie nicht wegwerfen, das wäre so, als würde ich ein Leben auslöschen.

SPIEGEL ONLINE: Sie sollen schon aus alten Fräcken Frauenkleider geschneidert haben.

Marras: Mir waren 100 Stück aus Wien geliefert worden, die habe ich auseinandergetrennt, neu geschnitten und dann in Frauenkleider zurechtgeschneidert. Bei der letzten Modenschau waren es 40 Vintage-Unterröcke. Es macht mir große Freude, diesen in Vergessenheit geratenen Kleidungsstücken neues Leben und ihre Würde zurückzugeben.

SPIEGEL ONLINE: Sie gelten als besonders materialverliebt, arbeiten mit Seide, Chiffon, Ottoman, Voile, Organza, Jacquard, Leinen, Damast, Drillich, Baumwolle und natürlich sardischer Spitze.

Marras: Ich reise heute durch die ganze Welt, um die Stoffe persönlich auszusuchen.

SPIEGEL ONLINE: Woher kommt diese Besessenheit?

Marras: Wie gesagt, ich bin mit Stoffen aufgewachsen. Als Kind ging ich sonntags mit meiner Familie in die Messe. Jedes Mal trichterte mir meine Mutter ein, ich solle um Himmels Willen nichts anfassen. Wir saßen in der ersten Kirchenbank, auf der eine Spitzendecke lag. Damit sie schön steif wurde, tauchte man sie in Zuckerwasser und ließ sie dann trocknen. Ich musste sie einfach anfassen - bis sie natürlich auf den Boden fiel.

SPIEGEL ONLINE: Ihre Kollektionen widmen Sie gern berühmten Künstlern, Pasolini oder Buster Keaton. Was hat Sie an Charlotte Salomon interessiert, eine deutsch-jüdische Malerin, die 1943 in Auschwitz umkam?

Marras: Ich war in New York und sah zufällig ein Poster von einer Ausstellung mit Salomons Bildern. Ihre Zeichnung auf dem Plakat - das war, als schlage ein Blitz bei mir ein. Auf Salomons Bildern vermischen sich Menschenleben, Farben, Erzählungen, die sie auf dramatische Weise zusammenfügt. So habe ich mich in diese Künstlerin verliebt.

SPIEGEL ONLINE: Wie ging es dann weiter - von der Verliebtheit zur Kollektion?

Marras: Als ich einen Koffer voller Ausstellungskataloge und Bücher über sie beisammen hatte, bin ich damit zu meinen Mitarbeitern gegangen. Gemeinsam haben wir dann versucht, die Atmosphäre, den Stil der dreißiger, vierziger Jahre über die Entwürfe wiederzugeben. Bei den Farben war das besonders schwer, das Grün von damals gibt es nicht mehr.

SPIEGEL ONLINE: Zu Ihren Inspirationsquellen gehörten auch schon der Fotograf E. J. Bellocq, der Anfang des 20. Jahrhunderts in New Orleans Prostituierte fotografierte, oder der "Art Brut"-Künstler Henry Darger aus Chicago. Wie gebildet muss man als Designer sein - allein, um solche Ideengeber zu finden?

Marras: Ich persönlich halte mich für äußerst unwissend, aber ich bewahre mir eine instinktive Neugier für alles, was mich umgibt. Man kann mich sehr leicht überraschen. Andererseits bin ich fest überzeugt, dass man diesen Beruf nicht ausüben kann, wenn man nicht die Vergangenheit in Rechnung zieht und sich Gedanken über die Zukunft macht. Auch wenn ich, genaugenommen, nur Fetzen produziere.

SPIEGEL ONLINE: Immerhin recht edle Fetzen: Sie arbeiten nicht nur für Ihr Marras-Label, sondern sind seit 2003 auch Chefdesigner von Kenzo. Wird man da nicht ein wenig schizophren?

Marras: Das passt sehr gut, ich habe Kenzo schon mal eine meiner Schauen gewidmet, als ich noch für das Modehaus Maison gearbeitet habe. Ich versuche einfach, mich Kenzos Arbeit so respektvoll wie möglich zu nähern, damit das Eigentliche, also die DNA, erhalten bleibt.

SPIEGEL ONLINE: Kennen Sie Berlin, wo diese Woche die Fashion Week läuft?

Marras: In einem Song von Lucio Dalla heißt es, "A Berlino non si perde nemmeno un bambino", in Berlin verirrt sich nicht mal ein Kind. Bei meinem ersten Besuch, muss ich jedoch zugeben, war ich schon irgendwie von all den modernen Bauten verstört. Doch beim zweiten Mal hatte ich einen persönlichen Stadtführer, einen meiner ehemaligen Mitarbeiter, der aus Berlin stammt. Da war der Eindruck dann schon ganz anders. Ich habe bis heute keine grünere Stadt gesehen.

SPIEGEL ONLINE: Wird sich Berlin Ihrer Meinung nach als kreatives Modezentrum etablieren können?

Marras: Berlin ist eine Stadt voller Widersprüche. Ich bin fest davon überzeugt, dass aus Gegensätzen oft wirklich Einmaliges entspringt. Man denke nur an einen Regisseur wie Rainer Werner Fassbinder, der hat aus den Kontrasten Kunstwerke gemacht. Leider meinen immer noch viele, die Deutschen könnten sich nicht anziehen. Klischees sind leider wie Unkraut - schwer aus der Welt zu schaffen.

Das Interview führte Andrea Affaticati

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