Wolfgang Joop

Zum Tode von Tatjana Patitz Wer Schönheit verliert, verliert Macht – sie blieb schön und mächtig

Wolfgang Joop
Erinnerungen von Modedesigner Wolfgang Joop
Tatjana Patitz gehörte in den Neunzigern zum erlauchten Kreis der Supermodels – es war eine Zeit, die alles erlaubte und alles verbrauchte. Ihr Tod ist auch ein Zeichen, dass die Sucht nach Schönheit und Freiheit vorbei ist.
Tatjana Patitz im April 2022 in München: Im Grunde ist Mode gar nicht so wichtig, sondern die Persönlichkeit derer, die sie trägt

Tatjana Patitz im April 2022 in München: Im Grunde ist Mode gar nicht so wichtig, sondern die Persönlichkeit derer, die sie trägt

Foto: APress / IMAGO

Da ist sie gerade. Sie ist im Fernsehen, und ich erschrecke. Wieder einmal. Tatjana Patitz ist tot? Ich kann das nicht glauben. Überall wird gesagt, die Neunzigerjahre sind wieder da, sie werden wachgerufen, und da sehe ich eines der berühmtesten Gesichter dieser Zeit. Doch mit ihrer Todesnachricht verschwinden sie gleich wieder, wie eine Fata Morgana.

Tatjana Patitz hatte dieses wahnsinnig geheimnisvolle Gesicht, unverwechselbar zu sehen auf dem Foto von Peter Lindbergh im Reigen der anderen Models jener Zeit. Cindy Crawford, Helena Christensen, Linda Evangelista, Claudia Schiffer, Naomi Campbell, Karen Mulder und Stephanie Seymour, damals, in Brooklyn, 1991.

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Dieses Gesicht war unvergesslich. Es ist unvergesslich. Diese slawischen Augen. Es gibt viele Fotos, wo man Tatjana einen Husky in die Arme drückte, um die Ähnlichkeit zu illustrieren. Diese unglaublichen animalischen blaugrünen Augen, zusammen mit ihrem Gesicht und ihrem Körper glich sie einer asiatischen Skulptur. Es war ein magischer Blick.

Wir schauten in ein Erdbeben einer neuen Model-Ära, jede einzelne ein Übermodel und nicht Supermodel, wie sie immer genannt wurden. Sie standen über allen Kategorien von Schönheit und Sinnlichkeit. Danach kamen so unendlich viele Models auf den Laufsteg, und man wusste gar nicht so genau, wie die eigentlich heißen.

Wer Christy war, das wusste man. Wer Naomi, wer Claudia, und natürlich wer Tatjana war, das wusste man einfach. Das Lindbergh-Foto sagt uns, dass die Mode im Grunde gar nicht so wichtig ist, sondern die Persönlichkeit derer, die sie trägt. Diese fünf, sechs Models sind einfach legendär, und das ist wirklich faszinierend. Ich weiß nicht, ob unsere jetzige Zeit noch solche Legenden hervorbringen kann.

Ich habe mir gerade die Fashionshow des Labels Balenciaga angesehen. Es beschleicht mich ein apokalyptisches Gefühl, als ob uns das Anonyme immer mehr beherrscht. Im Internet wird alles versehen mit kleinen Texten und Kommentaren, die Models kommentieren zurück, aber man kennt sie trotzdem nicht. Die Schönheiten von damals schwiegen, sie gaben keine inflationären Interviews, sie bewahrten sich ihre geheimnisvolle Aura.

Es war eine Zeit ohne Verbote, ohne Reflexion. Heute begleitet beides permanent alles.

Man wusste wenig über Tatjana Patitz. Sie war eine Zeit lang mit Seal liiert, dem späteren Mann von Heidi Klum. Aber man hat auch darüber wenig erfahren. Seit 1988 lebte sie sehr zurückgezogen in Kalifornien. Als ihr Gesicht nach längerer Zeit Anfang der Zweitausender wieder auftauchte, sah man, dass sie ihre Schönheit behalten hatte.

Es war für normale Verhältnisse schwer verdaulich, wie diese Frauen damals aussahen. Sie verkörperten den Geist der Neunziger, wo man einfach alles wagte, noch alles auf eine Karte setzte. Das sieht man auch an Designer-Schicksalen wie Versace oder Galliano, es war eine Zeit, die alles erlaubte, eine Zeit, die alles verbrauchte. Auch exzentrische Menschen auf eine seltsame Art und Weise. Jetzt hat man das Gefühl, von dieser Zeit hat die nächste Garde keine Ahnung mehr. Viele junge Leute, die sich durchaus mit Mode und Designern beschäftigen, kennen diese Gesichter und diese Namen gar nicht.

Es ging damals um eine ungebrochene Schönheitsvorstellung. Die Neunziger waren das Feiern dieser Superfotografen wie Herb Ritts, Wolfgang Tillmans, Mario Sorrenti, sie waren das Feiern dieser Supermenschen, dieser Superfiguren. Wer konnte, leistete sich damals diese Gesichter als Designer, als Fotograf, als Mensch und Bewunderer. Danach war diese Aura verschwunden.

Patitz versuchte sich kurz auch als Schauspielerin, hier im Film »Die Wiege der Sonne«: Die wenigsten schaffen es, in neue Rollen zu schlüpfen

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Foto: United Archives Entertainment / Publicity Still / IMAGO

Als ich die Balenciaga-Show sah, sah ich auch eine neue Botschaft. Die Gesichter waren fort, alles war weg, weggeschminkt, verhüllt in Ganzkörper-Gummianzügen. Und dann kamen »real faces« wie es hieß, gelebte Gesichter, praktisch als Provokation. Es trat Nicole Kidman auf. Und dann kamen die Realitystars um Kim Kardashian und Co. Das war eine seltsame Botschaft. Sie transportierte das Gegenteil zu dieser Sucht nach Schönheit und auch zu dieser Sucht nach Freiheit. Nicht umsonst tauchten 1990 im Musikvideo von George Michaels Song »Freedom« die Supermodels als Illustration dieser Zeit auf. Es war eine Zeit ohne Verbote, ohne Reflexion. Heute begleitet beides permanent alles. Darf ich das? Darf ich das nicht? Darf ich das sagen? Wen könnte ich beleidigen? Wer wird mich gleich korrigieren?

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Das gab es nicht. Wir alle, meine Generation, mein Berufsstand, wir alle trauern dieser Zeit natürlich nach und sind traurig, dass es immer weniger Personen gibt, die den Mut haben, zu dem zu stehen, was sie denken und sagen.

Die wenigsten schaffen es, in neue Rollen zu schlüpfen. Sie bleiben sie selbst, auch wenn sie unterschiedliche Garderoben tragen.

Alle, die ich kannte, hatten auf einmal den Wunsch, sich zurückzuziehen. Nadja Auermann lebt in Dresden mit ihrer Tochter und ihrem Sohn. Auch Claudia lebt sehr zurückgezogen. Von Tatjana hat man lange gar nichts gewusst und gar nichts gesehen. Das Internet war ihr suspekt, Social Media stand sie kritisch gegenüber, am liebsten hätte sie den »Aus«-Knopf gedrückt.

Naomi war die Einzige, die teils bis zur Groteske dablieb, sie wurde beinahe zu einer Art Kunstfigur wie Grace Jones. Und es ist auch verständlich, dass sich viele zurückzogen, sie wollten sich verbergen. Wenn man eine Woche lang fotografiert wurde und dann überall zu sehen war, war man zeitweise die berühmteste Blondine der Welt. Der Hype ist meist vorüber, wenn man 28 oder 30 Jahre alt ist. Obwohl eine Frau privat dann wunderschön ist und ihren Höhepunkt erreicht. Aber es können ja nicht alle ins Schauspielerinnenfach wechseln. Die wenigsten schaffen es, in neue Rollen zu schlüpfen. Sie bleiben sie selbst, auch wenn sie unterschiedliche Garderoben tragen.

Fotostrecke

Das Leben von Tatjana Patitz

Foto: teutopress / IMAGO

Und dann kommt irgendwann die große Zeit der Reflexion: Was mache ich nun mit dem großen Rest des Lebens? Linda Evangelista ist die Einzige, die sehr offen und provokant damit umging, dass sich ihr Kapital verflüchtigte, die ganz offen zu ihren Schönheitsoperationen-Unfällen stand. Es ist eine Art »Boulevard der Dämmerung«-Syndrom. Wer Schönheit verliert, verliert Macht – und das ist schwer zu verkraften. Doch Tatjana Patitz blieb schön, und sie blieb mächtig – indem sie sich sowohl innerlich als auch nach außen vom Modelbusiness distanzierte. Sie kämpfte für Tierschutz, warnte vor dem Artensterben, verzichtete auf vieles, worauf viele in ihrem Metier niemals verzichten würden.

Karl Lagerfeld sagte mal: »Die Ungerechtigkeit des Lebens ist der Charme des Lebens.« Als Ausnahmeerscheinung hat man später oft das Gefühl, von diesem Hype, von dieser unglaublich ungerechten Verteilung von Schönheit, von dieser Megagage etwas zurückgeben zu wollen. Das äußert sich häufig in Charity. Auch Tatjana engagierte sich, wollte sich als jemand zeigen, die nicht nur nimmt, sondern auch gibt. Quasi als Entschuldigung für die Ungerechtigkeit der Natur.

Ich kannte Tatjana Patitz gut. Obwohl ich nie direkt mit ihr zusammengearbeitet haben, bin ich ihr immer wieder begegnet, zum Beispiel auf Partys bei Fotografen in den USA. Unter uns Deutschen hatte man gleich einen Draht, rief sich beim Abschied immer zu, man müsse sich bald wiedersehen. Und dann kam es doch nie dazu. Wir hätten es wahr machen sollen.

Nun ist es zu spät.

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