Widerstandskämpfer Stéphane Hessel Der glückliche Lebenskünstler
Hamburg - Nur, wer glücklich ist, kann andere glücklich machen. Das ist die Lebensphilosophie, die Stéphane Hessel von seiner Mutter erlernt und in sich aufgesogen hat. Trotz oder vielleicht gerade wegen seines turbulenten Lebens. Der heute 91-Jährige schloss sich im Zweiten Weltkrieg dem französischen Widerstand um Charles de Gaulle an und überlebte drei Konzentrationslager. Nach Ende des Krieges machte er als Diplomat Karriere. Er ist der einzige noch lebende Botschafter, der am Entwurf der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen beteiligt war. Die TV-Dokumentation "Mein Leben - Stéphane Hessel" schildert nun sein bewegendes Leben.

Stéphane Hessel: "Man kann zwei Frauen gleichzeitig lieben"
Foto: DPAHessel, 1917 in Berlin geboren, ist ein vornehmer, distinguierter Herr mit graumelierten, buschigen Brauen über dunkelbraunen Augen. Ein Poloshirt oder ein zerknautschter Sonnenhut können den "Ambassadeur de France", zu dem ihn der französische Staat machte, nicht seiner Autorität berauben. Er gehört zu den wenigen Persönlichkeiten, die über politische, soziale und kulturelle Demarkationslinien hinweg geachtet, regelrecht verehrt werden.
Hessel ist ein Menschenfreund. Neugierig, ohne Scheu geht er auf Fremde zu. Barrieren kennt er nicht. "So viele Leute trifft man auf dieser Erde", sagt Hessel in akzentfreiem Deutsch und stöbert vor laufender Kamera in Schubladen antiker Kommoden nach Fotos, die ihn mit Nelson Mandela, dem Dalai Lama sowie mit Königin Beatrix zeigen, die Hessel als Tischherr bei einem Dinner offensichtlich sehr amüsierte.
Die Fernsehautorin Mechtild Lehning beschreibt Hessels abenteuerliches Leben. Zwei Wochen begleitete sie ihn zu wichtigen Stationen und im Alltag. Entstanden ist ein eindringlicher Film über einen aufgeweckten, lebenserfahrenen Mann, der immer auf der Seite der Dissidenten stand und noch heute aus dem Stegreif Rilke und Hölderlin rezitiert.
Auswendig kann er auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, denn bei deren Formulierung war Hessel vor mehr als 60 Jahren dabei. Der damals 31-Jährige war einer von 18 Diplomaten des Uno-Ausschusses, die in zweijähriger Arbeit die 30 Artikel ausarbeiteten.
Als einen der wichtigsten Tage seines Lebens beschreibt er noch heute den 10. Dezember 1948, als die Vollversammlung der Vereinten Nationen die Menschenrechtscharta annahm. "Wir haben dort gesessen und gewartet, ob sie Ja oder Nein sagen werden. Aber niemand hat Nein gesagt." 48 Länder stimmten mit Ja, acht Länder - Sowjetunion, Weißrussland, Ukraine, Saudi-Arabien, Südafrika, Jugoslawien, Tschechoslowakei und Polen - enthielten sich.
"Es war eine richtige Weltorganisation mit neuen Ideen und vor allem mit dem Sinn, nicht nur Frieden gegen Krieg zu tauschen, sondern auch Grundwerte zu entwickeln, die durch die brutale Naziherrschaft verloren gegangen waren", sagt Hessel. "Wir verstanden uns als Vertreter der Völker gegen die Regierungen." Für die Uno und das französische Außenministerium bereiste er anschließend die Welt, trieb die Entkolonialisierung voran und vermittelte in Konflikten.
Seine Eltern sind die Vorlage von Truffauts "Jules et Jim"
60 abwechslungsreiche Jahre als Weltbürger liegen heute hinter Hessel, doch die Zeit vor 1948 hat ihn ebenso stark geprägt: Mit sieben Jahren zieht Stéphane Hessel mit seinem Vater Franz, einem anerkannten Schriftsteller und Übersetzer, und Mutter Helen, Modekorrespondentin der Frankfurter Zeitung, von Berlin nach Paris. Er wächst auf in einem Künstlermilieu, in dem Maler wie Pablo Picasso und Marcel Duchamp verkehren.
Seine Eltern führen für die zwanziger Jahre eine eher ungewöhnliche Ehe. Hessels Mutter wendet sich dem französischen Schriftsteller Henri-Pierre Roché zu. Hessels Vater akzeptiert das großzügig. "Er erkannte, dass das wichtig für sie war", sagt der 91-Jährige und schiebt schmunzelnd nach: Es sei eine "Beziehung zwischen drei merkwürdigen Persönlichkeiten" gewesen, dennoch seien die drei "große Freunde" gewesen. Beleg dafür ist der Film "Jules et Jim" von Francois Truffaut, der die offene Beziehung der Eltern Hessel schildert: Zwei Männer begehren dieselbe Frau. Roché lieferte das Buch für Truffauts filmisches Meisterwerk.
Man könne zwei Frauen gleichzeitig lieben, sagt Stéphane Hessel, als er bei Oliven und Weißbrot auf der winzigen Terrasse seines Ferienhauses in Trouville sitzt und über Partnerschaften philosophiert. Eine Einsicht in die Liebe, die sich sowohl aus seinen Kindheitserfahrungen als auch aus seiner eigenen Vita entwickelt haben dürfte: Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete Hessel vor 22 Jahren ein zweites Mal - eine Frau, für die er bereits 30 Jahre lang tiefe Zuneigung empfand. So ist er es gewohnt.
Die Gestapo stellt ihm eine Falle - Hessel kommt ins KZ
1937 wird der deutsche Staatsbürger Hessel Franzose, vier Jahre später schließt er sich im Mai 1941 der Résistance an - als Patriot will er sein neues Vaterland nicht den Deutschen überlassen. 1944 soll er als Agent das Funknetz des Widerstandes in Frankreich neu organisieren. Unter Folter verrät ihn ein Verbündeter. Die Gestapo stellt ihm eine Falle. Hessel wird er bei einer geheimen Mission im besetzten Paris verhaftet.
Als einer von vier Kameraden aus einer Gruppe von 36 alliierten Offizieren überlebt er brutale Folter und die Konzentrationslager Buchenwald und Dora. Die Erlebnisse haben sich tief in seine Erinnerung gegraben. "Das war einer der Zeitpunkte, an denen man glaubt, so etwas kann es nicht geben, das ist erfunden. So schrecklich kann etwas nicht sein - aber so war es", sagt Hessel am Ort des Geschehens. Es ist einer der wenigen Momente, in denen Hessel Schwermut aufkommen lässt. Aus einem Zug, der ihn nach Bergen-Belsen bringen soll, gelingt ihm 1945 eine spektakuläre Flucht.
Sechs Monate später, im Oktober 1945, besteht er die Aufnahmeprüfung des Quai d'Orsay und wird als Büroleiter von Henri Laugier, stellvertretender Uno-Generalsekretär, nach New York versetzt. Es ist der Beginn seiner diplomatischen Karriere.
Die Bodenhaftung hat Hessel dennoch nie verloren. Bescheiden lebt er heute mit seiner Frau in einer 55-Quadratmeter-Altbauwohnung in Paris, sein Haus in Südfrankreich hat er seinen Kindern geschenkt. Reichtum, Wohlstand, Besitz - all das bedeutet ihm nichts. Für ihn zählt nur eins: "Ich hatte 90 gute, schöne Jahre - mit viel Glück."