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Lüge und Liebe

Ortstermin: Das Kriminalgericht Berlin-Moabit verhandelt gegen ein Ehepaar, das in großem Stil betrogen haben soll.
Von Mario Kaiser
aus DER SPIEGEL 3/2006

Die Lüge steht im Gericht Berlin-Moabit rechts in der Haupthalle, sie ist eine Skulptur aus Sandstein, eine Frau mit dem Kopf eines Fuchses, die hinter vorgehaltener Hand die Unwahrheit spricht.

Im Saal 220, vor der 22. Großen Strafkammer, geht es an diesem Morgen um die Frage, ob die Lüge auch ein Ehepaar aus Fleisch und Blut sein könnte, das mit gefalteten Händen die Unwahrheit sagt.

Vor Gericht ist jeder bis zum Beweis des Gegenteils unschuldig. Doch der Angeklagte Uwe S. bekennt sich zu Beginn der Verhandlung in allen Punkten für schuldig. Seine Frau aber, die Angeklagte Ilona S., sei unschuldig. »Sie wusste von nichts«, beteuert der Angeklagte, »alles geht zu meinen Lasten.«

Er nimmt jetzt alle Schuld auf sich, vielleicht weil bei den Ausgaben in dieser Ehe alles zu ihren Lasten ging. Denn als die Witwe Ilona S., ehemals B., in einer einsamen Nacht auf die Kontaktanzeige von Uwe S., ehemals K., antwortete, hatte sie Arbeit, eine private Rentenversicherung und eine fünfstellige Summe Erspartes.

Jetzt hat sie keine Arbeit mehr, keine Rentenversicherung und Schulden, was sie nicht davon abhält, ihren Mann weiter zu lieben.

»Er ist so charmant«, sagt sie später, in der Verhandlungspause, und lächelt dabei wie eine Braut am Altar. »Er kann so wunderbar erzählen.«

In diesem Punkt stimmt die Staatsanwältin der Angeklagten zu. Sie erhebt sich und liest die neun Seiten lange Klageschrift, Aktenzeichen 522-13/05, monoton und atemlos vor, wie eine Grundschülerin, die ein Gedicht vorträgt. Die Anschuldigungen wiegen in ihrer Summe so schwer, dass es keines dramatischen Vortrags bedarf.

Eine nicht enden wollende Aufzählung von Betrügereien verhallt im Saal, die Staatsanwältin starrt auf ihr Manuskript. »Postbank Hannover ... Kredit über 30 000 Mark ... unechte Gehaltsunterlagen ... HypoVereinsbank Berlin ... Immobilienkredit über 471 000 Euro ... falsche Rechnungen ... Kreditkarte der Barclays Bank ... Schaden von 6559 Euro ... Bezirksamt Lichtenberg ... Sozialhilfe beantragt ... falsche Angaben zur Wohnfläche ... irrtumsbedingt 4122,82 Euro genehmigt ... Maklervertrag abgeschlossen ... Vorspiegelung der Zahlungsfähigkeit ... Provision von 12 992 Euro nicht gezahlt ... entsprechender Schaden.« Und jedes Mal, wenn man denkt, das war es, an dem Punkt ist alles aufgeflogen, trägt die Staatsanwältin noch einen Fall vor. Vordergründig geht es darum: um die Frage, ob ein Ehepaar in 16 Fällen Banken und Behörden betrog und einen Schaden von Hunderttausenden Euro hinterließ.

Doch je mehr man erfährt über Uwe S., geboren 1957 in Ost-Berlin, und Ilona S., geboren 1955 im Kreis Parchim, je mehr man hört über das, was sie zwischen Oktober 2001 und Oktober 2004 getan haben sollen, desto mehr lernt man über das Wesen der Lüge und das Verhängnis der Liebe.

Ihre Geschichte erzählt etwas über das Bedürfnis der Männer, eine Rolle zu spielen, und das der Frauen, ihnen zu glauben. Bei Uwe und Ilona S. kam beides zusammen, in einer Art perfektem Sturm.

Uwe S. erzählte seiner Frau, er arbeite für den Berliner Senat. Das stimmte. Doch dass er als Computerspezialist 6000 Euro im Monat verdiente, das stimmte nicht. In Wahrheit hatte er eine ABM-Stelle. Als er die verlor, entwarf er für seine Frau das Bild eines unaufhaltsamen beruflichen Aufstiegs. Angeblich arbeitete er jetzt bei Sony Music. Er verließ morgens gutgekleidet das Haus und verbat sich Anrufe im Büro. »Mein Mann wollte Privates und Geschäftliches trennen«, berichtet Frau S.

Frau S. betreute in dieser Zeit fünf Pflegekinder neben ihren drei eigenen, damit verdiente sie ihr Geld. Eines Tages zeigte ihr Mann ihr ein schönes Haus und sagte, das sei doch perfekt für sie und die Kinder. Frau S. meinte, sie könnten sich das nicht leisten. Ihr Mann sagte, mit seinem Gehalt sei das kein Problem. Er fälschte Verdienstbescheinigungen und lieh sich bei der Bank 471 000 Euro.

So ging das immer weiter. Herr S. fälschte Dokumente und machte große Anschaffungen, Frau S. war sehr stolz auf ihren Mann. Irgendwann sagte er seiner Frau, er arbeite jetzt bei einer ausländischen Firma. Er ging montags aus dem Haus und kam freitags zurück. Frau S. stellte keine Fragen. Sie wusch seine Wäsche, bügelte die Hemden und packte den Koffer. Und am Montag verließ Herr S. wieder das Haus und quartierte sich in einer Berliner Pension für Bauarbeiter ein, 15 Euro die Nacht.

»Eigentlich«, sagt sein Verteidiger, »müsste man einen Film drüber drehen.«

Herr S. war vielleicht kein Computerspezialist, aber er war ein exzellenter Systemanalyst. Er wuchs im Sozialismus auf, doch die Mechanismen des Kapitalismus manipulierte er perfekt. Er besorgte die passenden Dokumente und konnte sehr schön erzählen, mehr brauchte er nicht. Er war im Westen gut angekommen.

Frau S. will von den Betrügereien ihres Mannes nichts gewusst haben. Das Gericht hat da Zweifel, aber irgendwie kann man Frau S. verstehen. Die Geschichte ihres Mannes klang zu schön, um nicht wahr zu sein. MARIO KAISER

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