Selbstversuch: Wenn eine Frau versucht, eine Stunde nicht auszuweichen
Dieser Beitrag wurde am 05.03.2019 auf bento.de veröffentlicht.
Mittags in der Hamburger Innenstadt: Das bedeutet Menschen, viele Menschen. Wie durch einen Slalomparcours schlängele ich mich sonst durch die Menge.
Aber heute nicht.
Heute spiele ich das Spiel, das manche Frauen unter »Man Bumping« kennen, andere unter »Patriarchy Chicken«.
Die Regeln: Ich versuche, gerade meinen Weg zu gehen, wenn jemand auf mich zukommt – und nicht auszuweichen. Denn Frauen machen öfter Platz – und sie sollten es nicht tun müssen. (New Statesman )
In der Sozialwissenschaft ist das kein Geheimnis: Schon Studien aus den 90er-Jahren von Ursular Nissen und Robert Gifford belegen, dass Jungs im öffentlichen Raum deutlich körperbetonter handeln als Mädchen. Sie haben ein dominanteres Territorialverhalten, Mädchen seien dagegen weniger raumgreifend, sagen die Forscher.
Aber stimmt das wirklich? Auch heute noch?
60 Minuten laufe ich mit versteckter Kamera durch die Innenstadt und versuche, immer schön auf meinem Weg zu bleiben.
11.30 Uhr, das Experiment beginnt
Ich nutze gleich die erste Chance auf einer Fußgängerbrücke. Zwei Männer laufen auf mich zu, ich atme tief durch und laufe schnurstracks auf sie zu. Wir kommen uns immer näher, noch näher, zu nah – und dann weiche ich doch aus. Mist.
Nächster Versuch: Diesmal richte ich mich auf und überquere selbstsicher eine Ampel. Der Mann direkt gegenüber scheint das zu bemerken – und macht einen weiten Bogen um mich.
Dann versuche ich es mit Menschengruppen: eine jüngere Männergruppe und eine ältere gemischte Gruppe mit Männern und Frauen. In beiden Fällen machen mir alle Platz.
Ich fühle mich kurz ein bisschen wie Moses, der das Wasser teilt.
Der Trick mit dem Selbstbewusstsein
Und vor allem glaube ich, den Trick rausgefunden zu haben: Je selbstbewusster ich auftrete, je mehr ich meinen Blick geradeaus richte und den Kopf gehoben halte, desto mehr Menschen weichen mir aus.
Kurz vor der Fußgängerzone kommt es dann allerdings fast zum Crash. Ein etwa zwei Meter großer Mann, Mitte 50, kommt auf mich zu. Im allerletzten Moment mache ich einen Satz zur Seite, um nicht von ihm angerempelt zu werden. Auch an der nächsten Ampel muss ich einem Mann, diesmal Mitte 30, quasi aus dem Weg springen.
Es kostet Überwindung, nicht auszuweichen. Und ich habe offenbar zu viel Angst vor der direkten Kollision, als dass ich es durchziehen würde – im Gegensatz zu den Männern. Ich muss mich zusammenreißen!
Nach etwa 15 Minuten habe ich schon Bekanntschaft mit fünf Männerschultern gemacht. Das Ganze ist ein bisschen wie Mario Kart, wenn man gezielt mit dem Auto die Aktionskisten ansteuert.
Einmal bleibt ein etwa 25-jähriger Mann direkt vor mir stehen und wartet ab, ob ich zur Seite trete. Ich mache es nicht, er geht vorbei. Dasselbe passiert mir wenige Minuten später, als ein 1,95-Mann mit Cap und zerrissener Jeans so lange stehen bleibt, bis ich doch den Schritt mache.
Eine Beobachtung: Während Männer noch warten, sind mir Frauen längst ausgewichen.
Immer wieder lasse ich es darauf ankommen: Ich laufe Frauen entgegen, aber die meisten von ihnen gehen mir schon auf weite Entfernung aus dem Weg. Keine Chance zu kollidieren. Sogar eine Frau mit Koffer rollt umständlich um mich herum.
Ich stoße in der gesamten Stunde nicht mit einer einzigen Frau zusammen – dafür aber mit ein Dutzend Männern.
Bei einem Crash mit einer Jungsgruppe im Bahnhof spüre ich richtig, wie das Adrenalin in mir aufsteigt. Die Zusammenstöße stressen mich, sie machen mich wütend, es ist, als wäre mein Raum automatisch weniger Wert als der der Männer – und ich habe jedes Mal Angst, sie könnten mich gleich anpflaumen.
Später entdecke ich im Bahnhof eine weiße Linie auf dem Boden. Ich laufe ein paar Mal daran entlang. Es herrscht Trubel, viele Reisende hetzen zu ihren Zügen. Wieder richte ich mich auf und trete den Menschen entgegen. Ein Mann streift etwas zu langsam an mir vorbei und streichelt mich. Ich glaube, er hat »Miau« gesagt. Mein Versuch, mir selbst Raum zu verschaffen, hat er offensichtlich als Flirtversuch gedeutet. Ihh!
Als ich einer älteren Frau wenig später versehentlich den Weg abschneide, rufe ich ihr sofort ein »Entschuldigung« hinterher. Keiner der Männer, mit denen ich zusammen gestoßen bin, hat das getan.
Nach 60 Minuten hatte ich deutlich zu viel Körperkontakt mit Fremden. Und ich habe bemerkt: Wenn ich mich nicht explizit darauf konzentriere, schlängel ich mich automatisch an den Menschen vorbei. Genauso wie fast alle Frauen heute. Warum ist das so? Und was sagt das aus?
Es zeigt: Bis heute machen Frauen Platz. Automatisch.
Meist sind wir so erzogen worden. Es gilt in der Gesellschaft als höflich, auf die Mitmenschen zu achten – und ihnen nicht vor die Füße zu laufen. Das dachte ich zumindest immer. Aber ich bin eine Frau und als solche erzogen worden.
Wird Männern etwas anderes beigebracht?
Denn sie merken wahrscheinlich nicht einmal, was sie tun – wer steht schon an normalen Tagen auf und denkt »Heute mach ich keinen Platz!«. Sie sind es einfach nicht anders gewohnt.
Mein kleines Gefühl des Triumphes am Anfang, mein Moses-teilt-das-Wasser-Moment – das ist für diese Männer einfach Normalität.
Jetzt kann man daraus schließen, das Frauen mehr sein sollten wie Männer: Ihren Raum einfordern, auf den eigenen Weg beharren, sich nicht verdrängen lassen. Und zu einem gewissen Teil wäre das bestimmt gut.
Aber eigentlich habe ich da keine Lust drauf. Ganz ehrlich, nach diesem Tag habe ich das Gefühl, unsere Bürgersteige und Shoppincenter wären schöner, wenn sich alle ein bisschen mehr so verhalten würden, wie es sich gehört – und sich gegenseitig ausweichen.
Jeder ein bisschen, Stück für Stück.