Videoaufzeichnung von Strafprozessen »Selten ist ein Gesetzesentwurf auf so einhellige Ablehnung gestoßen«

Kamera im Gerichtssaal: Bislang ist das nur Medien vor Verhandlungsbeginn gestattet – nun soll es nach dem Willen von Justizminister Buschmann in Strafprozessen Standard werden
Foto: Marijan Murat / picture alliance/dpaDie Justizministerien der Länder wehren sich gegen einen Gesetzentwurf, wonach Hauptverhandlungen in Strafprozessen künftig per Video aufgezeichnet werden sollen. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hatte einen entsprechenden Vorschlag im vergangenen November vorgelegt. Das Thüringer Justizministerium schreibt nun in einer Stellungnahme, es sei »dringend angezeigt, von dem Vorhaben Abstand zu nehmen«.
Buschmanns Entwurf »für ein Gesetz zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung« sieht vor, dass die Hauptverhandlung in Strafprozessen künftig in Bild und Ton aufgezeichnet wird. Die Aufnahmen sollen zudem mittels Transkriptionssoftware in ein Textdokument umgewandelt werden.
Bei der Veröffentlichung des Entwurfs erklärte Buschmann, eine digitale Dokumentation der Hauptverhandlung sei überfällig. Von der neuen Regelung verspreche er sich, »die hohe Qualität des Strafverfahrens noch weiter zu verbessern«.

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In Deutschland sind Verfahrensbeteiligte wie Richterinnen und Richter bisher darauf angewiesen, sich selbst Notizen zu machen, wenn Zeugen oder Gutachterinnen aussagen. Zukünftig sollen ihnen dann laut Gesetzentwurf Transkript und Aufzeichnung »unverzüglich« nach der Verhandlung zur Verfügung gestellt werden. Dafür müssten zunächst aber 600 Gerichtssäle mit der entsprechenden Technik ausgestattet werden. Das Bundesjustizministerium rechnet mit Kosten in Höhe von 25.850 bis 31.500 Euro pro Gerichtssaal.
Fachverbände kritisieren den Entwurf heftig. So befürchten Strafverfolger und Richterschaft, dass es durch die Aufnahmen schwerer werde, Menschen zu Aussage vor Gericht zu bewegen. Zudem besteht die Sorge, dass Mitschnitte gehackt und im Internet verbreitet werden könnten.
»Die mangelnde Sensibilität des Entwurfs für die Persönlichkeitsrechte der Verfahrensbeteiligten ist erstaunlich. Opfer und Zeugen dürften eher eingeschüchtert und abgeschreckt werden«, sagt Sven Rebehn, Geschäftsführer des Deutschen Richterbunds. »Zudem würden Strafverfahren, die schon heute so lange dauern wie noch nie, durch die ausufernden Dokumentationspläne weiter in die Länge gezogen.«
Funktion des Strafverfahrens beeinträchtigt?
Die Justizministerien der Länder teilen diese Bedenken offenbar. Das legen mehrere Stellungnahmen nahe. So heißt es etwa aus dem Haus der niedersächsischen SPD-Justizministerin Kathrin Wahlmann, das Vorhaben werde von der Praxis »äußerst kritisch betrachtet und einhellig abgelehnt«. Dieser Einschätzung schließe man sich »uneingeschränkt« an.
Das hessische Justizministerium schreibt sogar, die bei ihnen eingegangenen Stellungnahmen zu dem Gesetz seien in ihrem Umfang »außergewöhnlich« und in ihrer Ablehnung eindeutig. Einen Gerichtspräsidenten zitiert das Ministerium mit den Worten: »Selten ist ein Gesetzesentwurf auf so einhellige wie vehemente Ablehnung sämtlicher beteiligter Stellen gestoßen.« Diese ablehnende Bewertung teile man auch im Ministerium uneingeschränkt.
Und auch aus der eigenen Partei gibt es Widerstand gegen Buschmanns Vorstoß. In einem Schreiben aus dem Haus des rheinland-pfälzischen Justizministers Herbert Mertin (FDP) heißt es: Grundsätzlich begrüße man zwar das Ziel, die Verhandlungen besser zu dokumentieren. Die vorgesehenen Regelungen gingen jedoch weit über das erforderliche Maß hinaus und seien vielmehr geeignet, die »Funktionstüchtigkeit des Strafverfahrens und das Ziel der Wahrheitsfindung erheblich zu beeinträchtigen«.
Strafverteidiger sehen Buschmanns Vorschlag positiv
Zuspruch erhält Buschmanns Vorschlag von Strafverteidigern. Anders als die Justiz sehen sie in der Videodokumentation einen Fortschritt. »Die Einwände sind Scheinargumente«, sagt Ali B. Norouzi, stellvertretender Vorsitzender beim Strafrechtsausschuss des Deutschen Anwaltvereins. »Es gibt keine empirischen Belege, dass die audiovisuelle Dokumentation von Zeugen und anderen Aussagepersonen als Mehrbelastung empfunden wird.«
Zudem könne die Dokumentation Missverständnisse über den Inhalt von Zeugenaussagen aufklären und Verfahrensbeteiligte entlasten, weil diese nicht durch eigene Mitschriften abgelenkt seien. »Wer eine erhöhte Transparenz vor Gericht als ›zweifelhaften Nutzen‹ empfindet, gibt zu erkennen, worum es ihm tatsächlich geht: um die Verteidigung unkontrollierter richterlicher Entscheidungsmacht«, so Norouzi.