
Polen: Rätsel um die Toten von Marienburg
Massengrab in Marienburg "Mechanische Kopfverletzung"
Hamburg/Warschau - "Ich werde keine Anklage vorbereiten, weil wir nicht annehmen können, dass es sich um Massenmord handelt", sagte Bozena Wlodarczyk, die zuständige Staatsanwältin beim Institut für Nationales Gedenken, am Dienstag dem SPIEGEL. Nach monatelangem Warten liegt ihr nun eine Expertise der Medizinischen Akademie in Danzig vor, die mit der Untersuchung von ausgewählten Knochen und Schädeln aus Malbork, dem ehemaligen Marienburg, beauftragt war.
Im Oktober 2008 waren in unmittelbarer Nähe der Kreuzritter-Burg bei Bauarbeiten für ein Luxushotel rund 70 verscharrte Gebeine entdeckt worden. Diese Zahl stieg im Laufe weiterer Exhumierungen stark an, bis auf rund 2120 Gebeine. Sie wurden inzwischen auf eine Stätte des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge in Stare Czarnowo in der Nähe von Stettin umgebettet. Einige der Knochen und zehn Schädel waren zur Untersuchung nach Danzig gebracht worden.
Doch wer die Toten waren und wie sie starben, bleibt auch nach der dort vorgenommenen Analyse unklar. Als Todesursache führt die Staatsanwältin für die Mehrheit der untersuchten Schädel eine "mechanische Kopfverletzung" an. Eine dieser Verletzungen könne von einem Schuss herrühren, das sei aber nicht sicher. Die zumeist jungen Erwachsenen seien mit einer Ausnahme vor 60 bis 70 Jahren gestorben, also um die Zeit des Kriegsendes herum.
Beigesetzt in Bombentrichtern
Doch wodurch? In den Gruben hatten sich kaum Hinweise durch Kleiderreste oder Rangabzeichen gefunden. Staatsanwältin Wlodarczyk vermutet, dass die Leichen nach Ende der Kampfhandlungen mit Karren aus der schwergezeichneten Stadt gebracht und in Bombentrichtern beigesetzt wurden. Zuvor habe man ihnen die Kleider entfernt, um eine Epidemie zu vermeiden.
Dies geschah vermutlich zu einer Zeit, als Malbork unter russischer Verwaltung stand. Das Institut für Nationales Gedenken hat deshalb nach eigener Auskunft eine Anfrage an diverse russische Archive gestellt, um Näheres über die Massengräber zu erfahren - allerdings suche man dort nicht nach Schuldigen für Tötungen, erklärte die Staatsanwältin.
Die würden sich auch angesichts des im Jahr 1945 herrschenden Chaos kaum zweifelsfrei benennen lassen. Marienburg, das ehemalige Zentrum des Deutschen Ordens, war von der NS-Führung zur Festung erklärt worden. Als die Rote Armee im Januar 1945 die Stadt einnahm, verschanzten sich deutsche Soldaten in der mächtigen Burganlage.
Derweil suchten verzweifelte Zivilisten auf der Flucht vor der Roten Armee den Fluss Nogat zu überqueren. Anfang März war der Widerstand der letzten Wehrmachtssoldaten auf der Burg gebrochen. Im Juli 1945 übergab die Rote Armee Marienburg schließlich in polnische Verwaltung.
Rätselhafte Gebeine
Die Dramatik des Jahres 1945 hatte Anlass für diverse Spekulationen über das Marienburger Massengrab geliefert. Die Rote Armee habe beim Einmarsch in der Stadt verbliebene Deutsche ermordet, so eine Theorie. Es seien polnische Milizen gewesen, die Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten umgebracht hätten, so anderslautende Vermutungen. Immerhin wiesen einige Schädel Verletzungen auf, die man als Kopfschüsse deuten konnte.
Doch andere Indizien machen die These vom geplanten Massenmord mit anschließender Beerdigung in der Innenstadt unwahrscheinlich. Die Tötung von 2000 Menschen wäre auch in den letzten Kriegswochen kaum unbemerkt geblieben, glaubhafte Zeitzeugenberichte über solche Erschießungen gibt es nicht.
Stattdessen sagten Zeitzeugen aus, dass nach Ende der Kampfhandlungen zunächst noch zahlreiche Tote in den Häusern und Straßen Marienburgs liegengeblieben seien, die erst später beerdigt wurden. Auch die Typhus-Epidemie nach Kriegsende könnte einige Opfer gefordert haben.
Nicht unwahrscheinlich ist, dass die in den Gruben vereinigten Toten auf verschiedene Weise ihr Leben lassen mussten, durch Kampfhandlungen, Hunger, Seuchen, wohl auch durch Mord und Totschlag. Doch Spekulationen über ein organisiertes Massaker an Deutschen hatte auch der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge stets für unplausibel erklärt.
Vermutlich wird das Rätsel nie geklärt werden. Es sei beispielsweise vorstellbar, dass viele Menschen sich vor Beschuss in Kellern versteckt hätten und dort unter Trümmern umgekommen seien, so die zuständige Staatsanwältin. Ausreichend Hinweise auf Erschießungen gebe es nicht. Wlodarczyk bezeichnet die Toten von Malbork deshalb neutral als "Opfer der Kriegshandlung".