Messie-Syndrom Wenn das Chaos den Menschen regiert

Müllberge, Labyrinthe voller Unrat, Kisten mit unnützen Dingen - für viele Menschen ein ganz normaler Zustand. In Deutschland sind etwa zwei Millionen vom Messie-Syndrom betroffen. Experten zufolge werden es immer mehr.
Von Marion Kraske

Hamburg - Zuletzt glich ihre Wohnung einer Höhle: Berge aus Zeitschriften, alte Briefe und Rechnungen, Vasen, Teller und immer wieder Putzmittel. Lappen, Schrubber, Schwämme, Putzlösungen in allen Variationen. Andrea sammelte und behielt. Wegwerfen - das kam für die junge Frau nicht in Frage.

"Ich fühlte mich gar nicht als Sammlerin", erzählt Andrea im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. "Für mich waren das Leute, die auf der Suche nach etwas Speziellem waren: Kakteen, Autos oder Puppen. Ich hatte für jeden x-beliebigen Gegenstand hunderttausend Gründe, warum ich mich nicht von ihm trennen konnte."

Dass sie eine "Macke hatte", merkte die junge Berlinerin nach einiger Zeit selber. In der Wohnung türmten sich die für sie so kostbaren Errungenschaften, Einkäufe lagen wild umher, auch den Müll brachte die junge Frau zum Schluss nicht mehr hinunter. Das eigene Chaos wuchs ihr über den Kopf.

Psychologen bezeichnen Menschen wie Andrea als Messies - eine Krankheit, die nach dem englischen Wort "mess" (Unordnung, Chaos) benannt ist. In der ganzen Wohnung gab es schließlich kein Fleckchen mehr, wo sich die Mutter zusammen mit ihren Kindern aufhalten konnte. Doch Andrea wollte sich nicht unterkriegen lassen von dem übermächtigen Wirrwarr um sie herum. Immer wieder kaufte sie Putzzeug. "Ich wollte das Chaos beseitigen, habe es aber einfach nicht geschafft."

Ganz anders in ihrem Berufsleben: Als gute Seele sorgte Andrea in drei großen Haushalten für Ordnung. Was sie zu Hause nicht mehr bewältigte - hier klappte es paradoxerweise mit absoluter Perfektion. "Eigentlich bin ich ein totales Organisationsgenie", sagt Andrea über sich selbst. "Das muss man als Messie auch sein."

Auslöser: Verlust des Ehepartners

In Deutschland leben etwa 1,8 Millionen Menschen mit Messie-Syndrom, schätzt der Berufsverband Deutscher Psychologen. Doch die Krankheit ist noch weitgehend unerforscht. "Es gibt noch keine klinische Diagnose", sagt Gisela Stein, Psychologin an der Universität Bielefeld

Fest steht jedoch: Das Messie-Syndrom überlappt sich häufig mit anderen Krankheiten. Obwohl sie keine homogene Gruppe darstellen, leiden die Betroffenen Experten zufolge häufig an Depressionen oder an Angstzuständen. Auslöser sind oft kritische Lebensereignisse, etwa der Verlust des Lebenspartners aber auch des Arbeitsplatzes. Werner Gross vom Psychologischen Forum Offenbach sieht die Gründe auch im Elternhaus. "Viele", hat er festgestellt, "haben die notwendigen Strukturen einfach nicht gelernt."

In einer Gesellschaft, die immer anonymer wird und höhere Anforderungen an die Mobilität stellt, scheint laut Gross das Messietum zuzunehmen. Anfällig seien vor allem Menschen aus schnelllebigen Berufen, in denen es viele Veränderungen gibt, berichtet der Psychologe und nennt als Beispiel Menschen, die in sozialen Bereichen arbeiten, aber auch Börsen-Broker oder Computer-Spezialisten. Das Festhalten an Gegenständen schafft ihnen vermeintliche Sicherheit. "In dieser Gruppe ist das besonders krass", sagt Gross. Auch Wissensdruck und die Angst zu versagen spielen eine Rolle. Jeder noch so kleine Papierschnipsel mit Beschriebenem werde aufgehoben und gehortet, beschreibt eine ehemalige Betroffene ihre verzweifelte Suche nach Halt.

Ein einheitliches Muster gibt es nach Erkenntnissen der Psychologen aber nicht: Messies findet man in allen sozialen Schichten, 20-Jährige können genau so vom Sammelfieber befallen sein wie 80-jährige Greise. Dabei reicht das Spektrum von totalem Chaos bis hin zu ausgefeilter Penibilität. Nur im Extremfall leben Messies in völlig vermüllten Wohnungen, in denen einzelne Räume nicht mehr betreten werden können.

Es gibt aber auch das andere Extrem: Wie etwa Anton, der in seiner Wohnung ein ausgetüfteltes Regalsystem installierte, in dem er sämtliche Gegenstände akribisch verstaute. Per Computersystem fand er in Sekundenschnelle die gesuchte Tube Uhu oder den benötigten Schraubenzieher - seitlich gehend, weil die Gänge seines Labyrinthes mit der Zeit zu eng geworden waren. Nur für ihn selber war zum Schluss in der Wohnung kein Platz mehr: Anton schlief mit einem Zelt auf dem Vordach. Bis er vom Eigentümer aus der Wohnung geklagt wurde.

Unerträgliche Einsamkeit

Als besonders schlimm empfinden viele Messies die zunehmende Isolation, die mit ihrer Krankheit einhergeht. Sie vereinsamen, weil sie verzweifelt versuchen, ihre Krankheit geheim zu halten. Niemand darf mehr in die Wohnung - aus Angst entlarvt zu werden, aus Scham, das heillose Chaos preisgeben zu müssen.

Für Messies ist es daher wichtig, die Fassade aufrechtzuerhalten. Und in vielen Fällen gelingt das auch: So wusste selbst Andreas beste Freundin, die im gleichen Haus wohnte, lange nichts von dem Sammelwahn, der nur einige Treppen über ihr wütete. "Lügen, betrügen, da ist man erfinderisch", erzählt Andrea. Nach außen hin habe sie immer den Schein gewahrt: adrett, gepflegt, immer akkurat geschminkt.

Heute, mit Mitte 30, hat Andrea ihre Sammelwut einigermaßen im Griff. Als Mitglied der Anonymen Messies  berät sie über eine Telefon-Hotline Menschen, die wie sie nicht mehr gegen das heimische Tohuwabohu ankommen.

Hilfe bietet auch das seit 1996 immer größer werdende Netz von Selbsthilfegruppen. Schritt für Schritt versuchen Betroffene hier ihre Wohnung und ihr Leben neu zu ordnen. Freunde und Leidensgenossen können dabei helfen, sich von den Sammelbergen zu trennen. Kiste für Kiste ein Stück in die Normalität.

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