

Es ist 16.13 Uhr am Freitagnachmittag, als an der Ecke Álvaro Obregón und Yucatán Dutzende Menschen Fäuste in den Himmel recken. "Silencio" heißt das. Stille. Augenblicklich erlischt jedes Geräusch, Autos stellen den Motor ab, die Stromgeneratoren verstummen, und die umstehenden Menschen bleiben wie eingefroren stehen. Nur der Nieselregen rieselt leise auf den Asphalt.
75 Stunden zuvor hat ein schweres Erdbeben Mexiko-Stadt und südlich angrenzende Bundesstaaten erschüttert. Und auch an diesem Samstag meldete das nationale Seismologische Institut ein Beben der Stärke 6,1 im Süden des Landes, rund 680 Kilometer südöstlich von Mexiko-Stadt. In der Hauptstadt wurde Erdbebenalarm ausgelöst. Menschen rannten verängstigt auf die Straßen, allerdings seien die Erdstöße längst nicht so heftig zu spüren gewesen wie am Dienstag, hieß es.
Dennoch, solche Nachbeben erschweren die Sucharbeiten. So wie in der Straße Álvaro Obregón 286 im Stadtteil Roma, wo mexikanische, israelische und US-Retter noch immer nach Überlebenden suchen. 28 Menschen wurden aus dem zerstörten Gebäude gerettet, 46 werden noch vermisst. Mindestens sechs von ihnen sollen noch unter den Trümmern leben. Und jedes Mal, wenn die Spezialisten versuchen, Kontakt mit einem von ihnen aufzunehmen, werden die Fäuste gereckt. Silencio!
Das Büro- und Wohngebäude war am Dienstagmittag binnen Sekunden zusammengeklappt, als die Erdstöße der Stärke 7,1 die Stadt erzittern ließen. Es begrub eine unbekannte Zahl an Menschen unter sich. Und nun läuft den Rettern die Zeit davon. 72 Stunden - so sagt die Faustregel - hat man gute Chancen, Verschüttete lebend zu retten. Es wurden aber auch schon mal Menschen nach fast einer Woche aus Trümmern gezogen, etwa in Haiti vor sieben Jahren.
Die Zeit, Überlebende zu finden, wird knapp
"Bis zu 100 Stunden hat man in der Regel noch eine realistische Möglichkeit", sagt der Arzt Bastian Herbst von der deutschen Sektion der "International Search and Rescue" (ISAR), die seit Donnerstag mit einem zehnköpfigen Hilfsteam in Mexiko vertreten ist. Dann müssten aber viele Faktoren zusammenkommen. "Der Verschüttete muss unverletzt sein, Wasser haben und einen Hohlraum."
Demnach haben die Helfer hier in Álvaro Obregón noch bis Samstagmittag Zeit, die Verschütteten lebend zu bergen. Es ist ein Rennen gegen die Uhr. Am Freitagnachmittag ließen die Menschen an der Unglücksstelle die Fäuste nach fünf Minuten wieder sinken. Das vermutete Lebenszeichen unter dem Schutt war keines.
So wie in Álvaro Obregón im Stadtteil Roma suchen die Retter noch an mehr als einem Dutzend anderen Trümmerstellen in Mexiko-Stadt. Einheimische Rettungsteams, unterstützt von Suchmannschaften aus einem Dutzend Ländern, drehen jedes Schuttstück zweimal um. "Wir setzen die Suche mit aller Energie und Intensität bis zum letzten Moment fort, um noch jemand lebend zu finden", sagt Mexiko-Stadts Bürgermeister Miguel Ángel Mancera.
Insgesamt 38 Gebäude sind in Mexiko-Stadt zusammengefallen. Darin wurden bis zum Freitagabend 155 Tote geborgen. Landesweit stieg die Zahl der Todesopfer auf 293. Rund 70 Menschen konnten lebend geborgen worden.
In manchen Stadtteilen ist jedes zehnte Haus beschädigt oder unbewohnbar
Neben der Rettung der Menschen konzentrieren sich die Arbeiten auf die Evaluierung der Schäden. 3848 Wohnhäuser, Schulen, Kindergärten und öffentliche Gebäude haben nach Angaben von Bürgermeister Mancera strukturelle Schäden erlitten. In der Roma und dem angrenzenden Viertel Condesa verließen die Menschen nach dem Beben teilweise fluchtartig ihre Wohnungen, weil die Häuser mit Rissen durchzogen oder die Apartments unbewohnbar sind.
Aber der Stadtregierung fehlt die Manpower, um alle Schäden selbst zu begutachten. Daher unterstützen Bauexperten der Hilfsorganisation ISAR-Germany den mexikanischen Zivilschutz. "Der Schaden hier ist schon enorm, aber er verschwindet hinter der Größe der Stadt", sagt Bauingenieur Torgen Mörschel. Tatsächlich ist die Zerstörung lokal begrenzt. Während in bestimmten Stadtteilen jedes zehnte Haus beschädigt oder unbewohnbar ist, blieben andere Viertel der 20-Millionen-Metropole völlig verschont. Dort geht das Leben seinen normalen Gang.
Fall eines vermeintlichen Opfers löst Empörung aus
Unterdessen steigt der Unmut in der Bevölkerung gegenüber dem Krisenmanagement der Regierung. Unkoordinierte Hilfe an den Unglücksorten, gestohlene und neudeklarierte Nothilfe sowie der Fall eines erfundenen Opfers haben die sozialen Netzwerke und die mexikanische Presse in Rage versetzt.
Besonders der Fall des Mädchens "Frida Sofía", die angeblich in der Grundschule Enrique Rébsamen verschüttet war, hat den Ärger geschürt. Das Mädchen, vermeintlich zwölf Jahre alt und unter den Trümmern um sein Leben kämpfend, wurde von einem Sprecher der Marine, die an der Schule die Rettungsarbeiten leitet, erfunden. Der TV-Sender Televisa schmückte die Geschichte dann noch weiter aus, und so wurde das Medien-Phantom Frida Sofía geboren, über das nationale und internationale Medien berichteten.
Hinzu komm Kritik an der Regierung des Bundesstaats Morelos. Er ist nach Mexiko-Stadt am schwersten von dem Beben betroffen. Die Regierung, so der Vorwurf, konfisziere die Konvois mit Lebensmitteln und Nothilfe, die von Freiwilligen aus der Hauptstadt gesendet werden. Diese Hilfe lasse Gouverneur Graco Ramírez dann umwidmen, um sie als staatliche Hilfe auszugeben.
SPIEGEL+-Zugang wird gerade auf einem anderen Gerät genutzt
SPIEGEL+ kann nur auf einem Gerät zur selben Zeit genutzt werden.
Klicken Sie auf den Button, spielen wir den Hinweis auf dem anderen Gerät aus und Sie können SPIEGEL+ weiter nutzen.
Nach dem Erdbeben in Mexiko sind aus mehreren Ländern Helfer in das Land geflogen - auch aus Deutschland. Die Hilfsorganisation ISAR ist mit einem Team vor Ort. Mit dabei ist Bauingenieur Torgen Mörschel, der hier den Schaden an einem Gebäude dokumentiert.
ISAR-Mitarbeiter vor einem eingestürzten Gebäude in Mexiko-Stadts Viertel Roma: Manche Stadtteile haben das Beben relativ unbeschadet überstanden, in anderen ist jedes zehnte Haus beschädigt oder unbewohnbar.
Ein kritischer Moment: Wenn Helfer die Fäuste in die Höhe strecken, wissen alle, dass jetzt Stille wichtig ist. Immer dann nämlich, wenn es gilt, Kontakt mit möglichen Verschütteten aufzunehmen.
Allmählich läuft den Helfern die Zeit davon. In den ersten 72 Stunden nach einem Beben sind die Chancen am höchsten, Überlebende in den Trümmern zu finden. Diese Frist ist inzwischen überschritten. Die Helfer machen trotzdem weiter.
Ein Mitarbeiter der Rettungskräfte horcht auf die Lebenszeichen einer Person, die unter den Trümmern eines Hause begraben liegt. Die Zahl der Toten ist landesweit auf fast 300 gestiegen.
Das Beben hat in dieser Wand einen breiten Riss hinterlassen, der den Blick auf einen Innenhof freigibt.
Hand in Hand: Freiwillige und Rettungskräfte räumen auf der Suche nach Überlebenden Trümmer beiseite.
Die Suche geht auch nachts weiter: Für die Einsatzkräfte ist jede Stunde wertvoll.
Hündin Algeria und Schwein Jacinto schlafen in einer provisorischen Unterkunft: Die Tiere und ihre Herrchen waren vor dem Beben geflohen.