MH17-Zwischenbericht Letzte Worte über Dnipropetrowsk

Das Ende kam um 15:20 Uhr, und es kam ohne Vorwarnung: Der Zwischenbericht zum Absturz von Flug MH17 lässt erahnen, wie abrupt die Boeing zerstört wurde. Viele wichtige Details lässt der Report dennoch aus.
Von Rainer Leurs
MH17-Zwischenbericht: Letzte Worte über Dnipropetrowsk

MH17-Zwischenbericht: Letzte Worte über Dnipropetrowsk

Foto: Fred Neeleman/ dpa

Hamburg/Den Haag - Es ist ein gespenstischer Dialog, den der Zwischenbericht des niederländischen Sicherheitsrats  OVV wiedergibt. Teilnehmer: die Besatzung von Flug MH17 und ein Fluglotse in der Kontrollzentrale Dnipropetrowsk; es sind die letzten Sekunden vor dem Absturz der Boeing 777 über der Ostukraine. Inhalt des Routinegesprächs ist ein Kurswechsel, bei dem die Malaysia-Airlines-Maschine den Wegpunkt RND ansteuern soll.

15:08:00 Uhr - MH17: "Dnipro Radar, Malaysian eins-sieben, Flugfläche 330." - Lotse: "Malaysian eins-sieben, Guten Tag, wir haben Radarkontakt."

15:19:49 Uhr - Lotse: "Malaysian eins-sieben, wegen Flugverkehr bitte direkt zum Wegpunkt Romeo-November-Delta."

15:19:56 Uhr - MH17: "Romeo-November-Delta, Malaysian eins-sieben."

15:20:00 Uhr - Lotse: "Malaysian eins-sieben, und danach bitte direkt zu (Wegpunkt) TIKNA."

15:21:10 Uhr - Lotse: "Malaysian eins-sieben, können Sie mich hören? Malaysian eins-sieben, Dnipro Radar."

Eine Antwort bekommt die Flugsicherung nicht mehr, es bleibt still am Himmel über der Ukraine. Die Aufzeichnungen von Flugdatenschreiber und Stimmenrekorder brechen präzise um drei Sekunden nach 15:20 Uhr (deutscher Zeit) ab - unmittelbar nach dem letzten Funkspruch der Besatzung. Es ist der Moment, in dem die Boeing mit 298 Menschen an Bord von "zahlreichen schnell fliegenden Objekten durchlöchert" wird, wie der Zwischenbericht nüchtern feststellt.

Die Veröffentlichung des 34-seitigen Dokuments war gespannt erwartet worden. Erstmals sollten in dem Papier konkrete Fakten zur Ursache des Absturzes am 17. Juli genannt werden. Tatsächlich enthält der Bericht einige neue und aufschlussreiche Details über das Schicksal von Flug MH17. Gleichzeitig fehlen jedoch diverse Angaben - vor allem jene, die die Frage nach dem Schuldigen beantworten könnten.

Die Kernaussagen des Reports im Überblick:

  • Es gab bis zuletzt keinerlei technische Probleme mit dem Flugzeug.
  • Die Ermittler fanden keine Anzeichen für Manipulationen an den Flugschreibern, beide konnten vollständig ausgelesen werden.
  • Auf dem Stimmenrekorder sind keine Warnsignale vor dem Absturz zu hören, auch die aufgezeichneten Gespräche im Cockpit liefern keinen Hinweis auf einen Notfall. (Ein Transkript der Unterhaltungen liefert der Bericht nicht.)
  • Zum Absturzzeitpunkt waren laut Radaraufzeichnungen drei weitere Zivilmaschinen in der Region, eine davon in nur etwa 30 Kilometern Entfernung.
  • Die Schäden an der Bugsektion sowie am Cockpit deuten darauf hin, dass "das Flugzeug von außen durch eine große Anzahl schnell fliegender Objekte getroffen wurde". Wahrscheinlich hätten diese Einschläge dazu geführt, dass die Maschine instabil wurde und noch in der Luft auseinanderbrach.

Fotostrecke

Zwischenbericht zu MH17: Die Stille nach dem Abschuss

Foto: MAXIM ZMEYEV/ REUTERS

Der Report selbst nennt keinen möglichen Ursprung für die "schnell fliegenden Objekte". Passen würde die Beobachtung wohl zum Beschuss mit einer Boden-Luft-Rakete vom Typ Buk, die über einen sogenannten Fragmentations-Gefechtskopf verfügt: Dieser wird von einem Radar-Näherungszünder ausgelöst, explodiert in unmittelbarer Nähe des Flugzeugs und durchlöchert es. Theoretisch denkbar wäre auch ein vor allem in den sozialen Medien diskutierter Abschuss durch die Bordkanone eines Kampfjets - diese Option halten die meisten Experten allerdings für unplausibel.

Ohnehin müssten die Ermittler Trümmerteile einsammeln und untersuchen, um die Frage nach dem verwendeten Waffensystem abschließend zu klären. Das aber war bislang nicht möglich, wie der OVV schreibt. Grundlage für die Analyse der Schäden seien vielmehr Fotos, die ukrainische und malaysische Experten auf eigene Faust von den Wrackteilen gemacht hätten.

Flugroute und Absturzregion von MH17: Laut Zwischenbericht zeigt die Verteilung der Trümmerteile, dass Cockpit und Bugteil des Rumpfs zuerst wegbrachen. Die Mittelsektion und das Heck waren demnach noch länger in der Luft, bis sie schließlich weiter östlich auseinanderrissen und zu Boden gingen.

Flugroute und Absturzregion von MH17: Laut Zwischenbericht zeigt die Verteilung der Trümmerteile, dass Cockpit und Bugteil des Rumpfs zuerst wegbrachen. Die Mittelsektion und das Heck waren demnach noch länger in der Luft, bis sie schließlich weiter östlich auseinanderrissen und zu Boden gingen.

Foto: SPIEGEL ONLINE

Als weitere Quellen führen die Autoren unter anderem Radartapes der ukrainischen und russischen Flugsicherung sowie Satellitenbilder an - allerdings nur solche, die erst in den Tagen nach dem Absturz entstanden. Ältere und möglicherweise aufschlussreiche Aufnahmen durch US-amerikanische Spionagesatelliten werden zumindest nicht ausdrücklich genannt.

"Zusätzliche Beweismittel" für die Ermittler

Bemerkenswert an dem Zwischenbericht ist zudem, dass darin von der möglichen Präsenz ukrainischer Militärjets in der Absturzregion keine Rede ist. Eine solche Aussage hatte Russland in den Tagen nach dem Absturz gemacht  und damit angedeutet, dass die ukrainische Regierung in den Abschuss verwickelt sein könnte. Der internationalen Ermittlergruppe, die für den Bericht verantwortlich ist, gehörte mindestens ein russischer Vertreter an. Vorabversionen des Papiers wurden laut OVV im Vorfeld unter den Autoren verteilt und diskutiert. 

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OVV-Chef Tjibbe Joustra kündigte weitere Untersuchungen an, um die "externe Ursache" des Absturzes genauer zu benennen. "Wir glauben, dass in der Zukunft zusätzliche Beweismittel verfügbar sein werden." Der Zwischenbericht liefere lediglich erste Ergebnisse der laufenden Ermittlungen; ein Abschlussreport solle innerhalb eines Jahres veröffentlicht werden.

Unterdessen bezeichnete das russische Luftfahrtamt den Zwischenbericht als wenig aussagekräftig. "Leider ist viel Zeit verstrichen - es wird kompliziert sein, alle Ursachen zu ermitteln", sagte Experte Oleg Stortschewoj der Agentur Interfax. So seien die Wrackteile in der Kampfzone möglicherweise in Mitleidenschaft gezogen worden. "Der Bericht ist erst der Beginn einer langwierigen Arbeit. Die objektive Untersuchung muss fortgesetzt werden."

Malaysias Premierminister Najib Razak begrüßte das Erscheinen des Berichts. Dessen Ergebnisse würden darauf hindeuten, "dass eine Boden-Luft-Rakete Flug MH17 traf". Weitere Untersuchungen seien notwendig, um völlig sicher zu sein. Dazu forderte er in einer schriftlichen Stellungnahme uneingeschränkten Zugang zur Absturzstelle. Es sei ausgesprochen wichtig, "die Untersuchung abzuschließen und die Wahrheit zu ermitteln".

Nach Ansicht der Separatisten wiederum belastet der Report die Regierung in Kiew. "Es ist offensichtlich, dass es eine Provokation der ukrainischen Armee war, um Russland und die Volkswehr zu diskreditieren", sagte Separatistenführer Miroslaw Rudenko laut Interfax. "Es gibt viele Widersprüche in der ukrainischen Version, und der Report bestätigt dies nur." Ähnlich äußerte sich Separatistenführer Alexander Sachartschenko. "Wir verfügen nicht über die Technik, um ein solches Flugzeug abzuschießen", sagte er.

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Mit Material von AP und dpa
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