Umgang mit Missbrauch in der katholische Kirche Nulltoleranz und verheerende Nibelungentreue
Was der Opfervertreter sagt:
"Die Kirche ist der ideale Raum für Serienmissbrauchstäter"

Opfervertreter Matthias Katsch: "Niemand kontrolliert die Einhaltung der Leitlinien"
Foto: imagoMatthias Katsch ist Sprecher der Initiative "Eckiger Tisch" in Offenburg. Er wurde selbst Opfer sexuellen Missbrauchs durch Jesuiten, brachte 2010 mit zwei weiteren Betroffenen den Skandal ins Rollen, als er erstmals über die Verbrechen am Canisius-Kolleg sprach. "Das war eine unglaubliche Welle, aber auch ein Befreiungsschlag - ich hatte schließlich 30 Jahre lang geschwiegen", sagt er heute.
Vieles habe sich in der Gesellschaft seitdem verändert: "Männer werden endlich auch als Opfer wahrgenommen, zu denen sie in der Familie oder den Institutionen werden." Auch sei es einfacher geworden, über Missbrauch zu sprechen. "Die teilweise hysterischen Berichte der ersten Zeit nach den Enthüllungen sind Vergangenheit, heute finden Journalisten einen anderen Zugang zu dem Thema." Es gebe endlich Präventionsprogramme, man versuche, Schulen und Kindergärten zu sicheren Orten zu machen.
Und die Kirche? "Weder die Führungsebene noch das Kirchenvolk haben in letzter Konsequenz verstanden, dass es sich nicht um Einzelfälle, sondern um systematischen Missbrauch handelt. Allein mein Täter war für 200 Fälle verantwortlich", sagt Katsch. Die Bischöfe trieben die Aufklärung nicht voran, auch Franziskus sei es bisher nicht gelungen, "Aufbruchsstimmung in seinem eigenen Laden zu erzeugen". Signale, die er setzt - wie etwa die Nulltoleranz-Politik - würden in Deutschland nicht umgesetzt. Noch immer stünden die Opfer der Institution hilflos gegenüber. "Das Männerbündlerische, die Intransparenz, die Doppelmoral und die totale Abschottung nach außen machen die katholische Kirche zum idealen Raum für Serienmissbrauchstäter."
Die katholischen Schulen regierten sich selbst, niemand kontrolliere etwa die Einhaltung der Leitlinien für den Umgang mit Missbrauch. Es herrsche weithin Nibelungentreue: "Wenn ein Priester heiratet, entfernt ihn die Kirche sofort aus ihren Reihen. Wenn er ein kleines Kind missbraucht, darf er bleiben."
Was der katholische Missbrauchsbeauftragte sagt:
"Faktisch haben wir die Nulltoleranz"

Missbrauchsbeauftragter Ackermann: "Lieber keine gesetzliche Anzeigenpflicht"
Foto: Rolf Vennenbernd/ dpaDer Trierer Bischof Stephan Ackermann ist Missbrauchsbeauftragter der katholischen Kirche. In seinem Bistum laufen derzeit zwei kirchliche Strafverfahren wegen Missbrauchsvorwürfen gegen Priester. In fünf weiteren Fällen führe die Kirche Voruntersuchungen durch. Außerdem seien Abschlussberichte zu Ermittlungen gegen drei weitere Priester an die römische Glaubenskongregation übergeben worden.
Für Ackermann steht fest, dass in seiner Kirche inzwischen eine Nullt oleranz gegenüber sexuellen Übergriffen herrscht - "nicht formaljuristisch, aber faktisch".
"Wir haben heute eine vollkommen andere Sicht auf die Dinge als 2010", sagt der Bischof. Die Systematik der Aufarbeitung sei eine bessere, die Professionalität sei gestiegen. "Früher lag die Beweislast völlig auf Seiten der Opfer." Heute herrsche eine andere Kultur im Umgang mit Missbrauchsvorwürfen. "Selbst wenn es keine unmittelbar zutage liegenden Beweise gibt, prüfen wir schnellstens die Plausibilität der Anschuldigungen."
Die Betroffenen würden in jedem Fall ermutigt, Anzeige zu erstatten. "Sind die Vorwürfe staatlich verjährt, versuchen wir innerkirchlich aufzuklären." Die Zahl der Missbrauchsmeldungen sei drastisch gesunken, dennoch gebe es auch heute noch Opfer, die sich nach vielen Jahren meldeten.
Ackermann hält es nach wie vor für sinnvoll, dass es keine gesetzliche Pflicht zur Anzeige gibt. "Ein solcher Automatismus würde viele Opfer abschrecken, weil es bedeutet, dass sie vor Gericht die Taten noch einmal durchleben müssten. Erfahrungsgemäß wollen sie aber nicht schon wieder fremdbestimmt sein, vernommen werden, Zeugenaussagen machen. In jedem Fall wollen sie die Entscheidungen darüber selbst treffen." Tatsächlich gebe es aber wenige Fälle, in denen die Behörden nicht eingeschaltet würden.
Immer wieder beklagen Opfer, dass entlarvte Täter, die wegen Verjährung nicht mehr belangt werden können, zwar aus der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen abgezogen, aber nicht aus kirchlichen Diensten entlassen werden. Stattdessen gewähre man ihnen weiter Schutz und Unterkunft. "Wir praktizieren Nulltoleranz gegenüber der Tat - aber nicht gegenüber der Person", sagt Ackermann. "Ich kann einen Täter doch nicht einfach ausstoßen. Er soll nicht aus dem sozialen Netz ins totale Nichts fallen."
Was der päpstliche Präventionsexperte sagt:
"Wir müssen mit Widerstand rechnen"

Kirchlicher Präventionsexperte Zollner: "Es ist Pionierarbeit"
Foto: ALESSANDRO BIANCHI/ REUTERSDer Jesuitenpater Hans Zollner ist Psychologe und Vizerektor der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom. Er ist außerdem Mitglied der am 22. März 2014 ins Leben gerufenen päpstlichen Kommission für Kinderschutz. Zollner leitet das "Center for Child Protection", ein E-Learning-Projekt zur Prävention von sexuellem Kindesmissbrauch, mit dem kirchliche Mitarbeiter weltweit online geschult werden.
Zollner hat durch seinen Job in Rom und einen regen internationalen Austausch eine globale Perspektive auf die Missbrauchsproblematik. Noch heute kommt er in Länder, wo noch nie ein Geistlicher öffentlich über sexuellen Missbrauch gesprochen habe. "Dort müssen wir mit Widerstand rechnen, aber meistens bringt dieser Anstoß viele Steine ins Rollen", sagt er.
Im Moment sei sehr viel in Bewegung, vor allem in Lateinamerika und Mittel- und Osteuropa. "Es geht in Richtung einer systemischen Veränderung. Unter Kardinälen und Bischöfen wird mit einer Offenheit und Unmissverständlichkeit diskutiert, die es vorher nicht gab." Missbrauch werde es leider immer geben, aber: "Mittlerweile verstehen die meisten, worum es auch dem Papst geht", so Zollner.
Die Kirche sei wie ein Riesentanker, man müsse schon heftig ziehen, um ihn in Bewegung zu bringen. "Der jetzige Steuermann reißt schon ordentlich am Ruder. Die Veränderungen, die uns betreffen, sind nicht mehr kosmetischer Art - sie gehen ans Eingemachte."
Beim Umgang mit Straftätern, die aufgrund der Verjährung nicht mehr belangt werden können, stehe die Kirche "genauso auf dem Schlauch wie die staatlichen Behörden": "Was soll man mit den Leuten machen? Sie für immer wegsperren? Oder gar umbringen, wie es in Belgien ein Täter unlängst selbst vorgeschlagen hat? In kaum einem Land gibt es spezielle Therapieangebote für Missbrauchstäter."
Wenn die Skandale der Vergangenheit etwas bewiesen hätten, dann dies: "Schweigen und Vertuschen ist schädlich für alle - der Kirche muss es um die Wahrheit gehen."