Kölner Missbrauchsgutachten »Die große, dunkle Patengestalt im Hintergrund«

Der 2017 verstorbene Kardinal Joachim Meisner bei seiner Verabschiedung im Kölner Dom (2014)
Foto: Oliver Berg / picture alliance / dpaSPIEGEL: Herr Katsch, das lang erwartete zweite Missbrauchsgutachten aus dem Erzbistum Köln liegt vor. Wer war der Oberhalunke in Sachen Missbrauchsvertuschung?
Katsch: Die große, dunkle Patengestalt im Hintergrund ist auf den ersten Blick Kardinal Joachim Meisner. Unter ihm hat sich in Köln ein System verfestigt, zu dem unter anderem Weihbischof Dominik Schwaderlapp, der heutige Hamburger Erzbischof Stefan Heße sowie Kardinal Rainer Maria Woelki gehörten. Sie alle haben dazu beigetragen, dass es elf Jahre gedauert hat, bis die Öffentlichkeit erfahren hat, dass es nicht einige wenige mutmaßliche Sexualstraftäter in ihren Reihen gab, wie noch 2010 behauptet, sondern mehr als 200.
SPIEGEL: Kardinal Meisner wird ein Drittel aller jetzt entdeckten Pflichtverstöße zur Last gelegt.
Katsch: Meisner hat seinen geheimen Aktenordner mit klerikalen Verfehlungen unter »Brüder im Nebel« abgelegt . Allein diese Formulierung spricht Bände über das Selbstverständnis der Kirchenoberen in Köln. Es ging ihnen nicht darum, die Schuldigen zu bestrafen und weitere Übergriffe zu verhindern. Sondern es ging darum, vom Weg abgekommenen Brüdern aus dem Nebel zu helfen. Meisner hat seine Nachfolger in diesem Sinne erzogen und dieses sträfliche Verhalten damit an die nächste Generation weitergegeben.
SPIEGEL: Wie sollte man mit diesem Wissen umgehen?
Katsch: Das Kölner Gutachten ist ja keine Missbrauchsaufarbeitung im eigentlichen Sinne, sondern eine Auswertung jener Akten, die den Rechtsanwälten vom Erzbistum als Auswahl zur Verfügung gestellt wurden. Die genannten 75 Verstöße durch Kirchenobere müssen jetzt weiter untersucht werden, um herauszufinden, was Meisner und sein Männerklub wirklich wussten.
SPIEGEL: Kardinal Woelki wurde quasi Absolution erteilt – ihm konnte keine Pflichtverletzung nachgewiesen werden. Ist er aus Betroffenensicht exkulpiert?
Katsch: Dass Kardinal Woelki hier in Bausch und Bogen freigesprochen wird, verstehe ich nicht. Kirchenrechtlern zufolge gab es schon ab 2002 eine Meldepflicht für Missbrauchstäter, die Bischöfe sollten immer die Glaubenskongregation in Rom informieren. Gegen diese Auflage ist in Köln systematisch verstoßen worden, auch in der Amtszeit von Kardinal Woelki.
SPIEGEL: Sollte er seinen Rücktritt anbieten?
Katsch: Ja. Es gibt über die straf- und kirchenrechtlichen Fragen hinaus auch noch den moralischen Aspekt. Glaubt Kardinal Woelki tatsächlich, dass er nach allem, was jetzt bekannt geworden ist, in seinem Erzbistum noch die anstehende Aufarbeitung leiten und gestalten kann? Ich glaube das nicht. Schon heute sind fünf von neun Mitgliedern des Kölner Betroffenenrats freiwillig gegangen, weil sie ihm nicht mehr vertrauen.

Der Philosoph Matthias Katsch ist Mitbegründer der Betroffeneninitiative Eckiger Tisch. 2010 berichtete er dem damaligen Leiter des Canisius-Kollegs, Klaus Mertes, von seinen Missbrauchserlebnissen in der Kirche. Kurz danach meldeten sich Hunderte weitere Betroffene – der Missbrauchsskandal brach über die Kirche herein. Seitdem setzt sich Katsch bundes- und weltweit für Opfer sexueller Gewalt ein, fordert Aufklärung, Prävention und angemessene Entschädigungen.
SPIEGEL: Woelki hat unmittelbar nach der Vorstellung des Gutachtens seinen Weihbischof Dominikus Schwaderlapp und den Leiter des erzbischöflichen Gerichts, Offizial Günter Assenmacher, vorläufig von ihren Aufgaben entbunden. Sind das Bauernopfer, um die Öffentlichkeit ruhig zu stellen?
Katsch: Nicht ganz, denn sie haben erwiesenermaßen Pflichtverletzungen begangen. Aber es ist noch ungewiss, ob dann auch der Papst ihr Rücktrittsgesuch überhaupt annimmt. In allen Zellen der Kirche gilt das Hierarchieprinzip. Die Bischöfe sind kleine Monarchen, die alles entscheiden, aber sobald sie Verantwortung übernehmen sollen, tauchen sie ab. Dabei fängt der Fisch bekanntermaßen am Kopf an zu stinken.
SPIEGEL: Der Hamburger Erzbischof Heße soll in seiner Kölner Zeit mindestens elf Pflichtverletzungen begangen haben, er habe Verdachtsfälle nicht gemeldet und nicht ausreichend aufgeklärt.
Katsch: Dem Gutachten zufolge wird ihm keine mangelnde Opferfürsorge vorgeworfen. Aber ich weiß von drei Fällen, in denen er sich gleichgültig und abweisend gegenüber Betroffenen verhalten haben soll. Dass ihm außerdem elf Pflichtverletzungen vorgeworfen werden, bedeutet: Er darf dem mit den Bistümern Hildesheim und Osnabrück geplanten Missbrauchsaufarbeitungsprozess auf keinen Fall vorstehen. Das würde den Prozess von Anfang an belasten. Immerhin hat er nach der Veröffentlichung des Gutachtens dem Papst seinen Amtsverzicht angeboten. Es wird interessant zu sehen, wie Rom reagiert.
SPIEGEL: Rechtsanwalt Björn Gercke, der das Gutachten für das Kölner Erzbistum erstellte, spricht von »nicht systematischer, sondern systemimmanenter Vertuschung«. Ist diese Unterscheidung nicht verharmlosend, weil sie Vorsatz ausschließt?
Katsch: Ja, das ist sie. Gercke versucht, die Verantwortlichen zu entschuldigen. Sie wussten es angeblich nicht besser, waren schlecht informiert, hatten eine chaotische Aktenführung. Er führt mildernde Umstände an. Das ist aber nicht statthaft. Entweder er bescheinigt ihnen Amtsunfähigkeit – dann sollten sie schon deswegen zurücktreten. Oder er versucht, das Planhafte oder die kriminelle Energie dahinter zu kaschieren.
SPIEGEL: Warum hat es die Menschen im Bistum und bundesweit so nachhaltig empört, dass Kardinal Woelki das erste Gutachten aus München unter Verschluss hielt? Im Berliner Missbrauchsgutachten vom Januar wurden knapp 440 von mehr als 660 Seiten gar nicht veröffentlicht – trotzdem war der Protest verhalten.
Katsch: In Köln haben Kirchenobere ein Gutachten in Auftrag gegeben, die selbst der Missbrauchsvertuschung verdächtig waren. Deshalb war die Aufregung so groß. Im Berliner Erzbistum ging es nur um Fälle, die den Erzbischof Heiner Koch nicht betrafen, weil sie länger zurücklagen. Diese Fälle zeigen: Wir brauchen dringend eine übergeordnete Instanz, etwa eine parlamentarische Wahrheitskommission, die den Aufarbeitungsprozess in 27 Bistümern und Hunderten Ordensgemeinschaften und der evangelischen Kirche im Blick behält.
SPIEGEL: Und bestenfalls auch überwacht.
Katsch: Sicher. Dafür braucht man Personal und politischen Willen.
SPIEGEL: Aber die Kirche hat doch keinerlei Interesse daran, mehr Transparenz auch in Verwaltungsvorgängen einzuführen. Wie kann man das forcieren?
Katsch: Man muss klare Bedingungen stellen. Dies ist ein guter Moment, der Kirche zu sagen: Eure schlampige Aufarbeitung hat viele Menschen zum Opfer gemacht. Wenn ihr keine strukturellen Reformen durchsetzt, werden euch die finanziellen Mittel vom Staat gekürzt.
SPIEGEL: Welchen Einfluss wird das Kölner Gutachten auf die kommenden Missbrauchserfassungen in der Kirche haben?
Katsch: Wir sollten uns klarmachen, dass ein Anwaltsgutachten nicht unabhängig sein kann. Der Anwalt handelt im Auftrag seines Mandanten, er vertritt dessen Rechte, und er tut in der Regel, was dieser von ihm verlangt. Er ist parteilich.