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Autoren Mitteilungen an die Oberwelt

Seit seinem zweiten Lebensjahr galt er als unheilbar kranker Autist, dann entdeckte er das Schreiben per Computer. Seine Texte klingen wie Notschreie eines Verzweifelten, der seiner inneren Isolationshaft zu entkommen sucht. Jetzt ist der Berliner Birger Sellin, 20, auf dem Weg, der erste autistische Dichter der Welt zu werden.
aus DER SPIEGEL 35/1993

Die Texte sind mysteriös und voller Rätsel. Sie dringen aus einer unheimlichen, mit Düsternis überladenen Welt herüber, »in der alles einsam wird wenn es mit ihr in berührung kommt«. Sie quellen aus einem Schattenreich, das keine Freude kennt. Sie sprechen eine Sprache der Qual, wie sie nach Hölderlin und Artaud nicht mehr gehört wurde.

Von »ohnemichmenschentum« raunt es da, von »sümpfen des schweigens«, in denen die Angst lauert, »so viel angst daß die erde es kaum tragen kann«. Ein »dunkler keinmensch« ergreift das Wort als »ordentlicher sprecher« seiner »artgenossen«, der »insel- oder kastenmenschen«, einem »erlesenen haufen verrückter«, »irdischer untermarterstehender wesen«, in deren Welt es »kein lachen geben« kann und »die traurigkeit keine tränen« hat.

Noch mysteriöser als die Texte selbst ist der Vorgang ihrer Entstehung. Es dauert eine Weile, ehe der Beobachter zu glauben beginnt, was er sieht.

Ein halbwüchsiger junger Bursche sitzt, scheinbar völlig geistesabwesend und absonderliche Geräusche von sich gebend, vor einem Computer und schreibt. Er benutzt dabei nur den Zeigefinger der rechten Hand, während ihn seine Mutter, die neben ihm sitzt, am Unterarm stützt.

Nur mit äußerster Anstrengung findet der Finger die Tasten. Mitunter schlägt sich der seltsame Jüngling den Handballen ins Gesicht und beißt hinein. Ab und zu springt er auf, irrt mit unstetem, wirren Blick durch den Raum, wirft sich schnaubend auf ein Sofa und schaukelt wie wild mit dem Oberkörper.

Wer dem optischen Eindruck folgt, hält diesen Menschen für wahnsinnig. Aber wer auf den Computerbildschirm schaut, erblickt dort Texte, die von bizarrer Schönheit sind.

Der junge Mann heißt Birger Sellin, ist 20 und seit seiner frühen Kindheit schwer autistisch und stumm. Bis in sein 18. Lebensjahr hinein galt er als extrem geistig behindert. Jetzt ist Sellin auf dem Weg, der erste autistische Dichter der Welt zu werden.

»Facilitated communication« (gestützte Kommunikation) heißt die Methode, mit deren Hilfe sich Birger Sellin seit August 1990 schriftlich mitteilen kann, nachdem er seine gesamte Kindheit und Jugendzeit, zumindest äußerlich, in einer Art Dämmerzustand verbrachte.

Das Verfahren wurde zu Beginn der achtziger Jahre von der australischen Pädagogin Rosemary Crossley entwickelt. Zunächst bei spastisch gelähmten Patienten angewendet, erwies es sich in der Folgezeit auch für Personen mit anderen Behinderungen als praktikabel. Die mechanische Unterstützung durch eine Vertrauensperson, in der Regel die Eltern oder Therapeuten der Betroffenen, kompensiert motorische oder psychische Barrieren und ermöglicht, daß sich viele als geistig behindert abqualifizierte Menschen auf einer Buchstabentafel oder einem PC artikulieren können.

Zwei Zäsuren gab es in der ansonsten so monotonen Biographie Birger Sellins, und beide waren derart einschneidend, daß sie sein Leben und das seiner Familie von Grund auf veränderten. Die eine ereignete sich, als Birgers Mutter durch Vorträge einer amerikanischen Sprachtherapeutin von der Möglichkeit der gestützten Kommunikation erfuhr und ihr Sohn nach 16jährigem Schweigen zu schreiben begann. Die andere lag in Birgers früher Kindheit.

Der kleine Birger, erstes Kind des Berliner Juristen Dankward und der Psychologin Annemarie Sellin, war keine zwei Jahre alt, als seine geistige Entwicklung beendet schien. Schlagartig hörte der Junge auf zu sprechen und wich jedem Kontaktangebot seiner Eltern aus. Er spielte nicht mehr wie andere Kinder und zeigte statt dessen dubiose Verhaltensweisen: Stundenlang ließ er wie hypnotisiert Murmeln und Glasperlen durch die Finger rieseln, blätterte gedankenverloren in Büchern, die er aus der Regalwand nahm, oder schaukelte unausgesetzt mit dem Oberkörper.

Ärzte waren ebenso ratlos wie Birgers Eltern. Einer ihrer Befunde lautete, der Junge leide an einer geistigen Rückbildung infolge einer Gehirnzellenentzündung. Als Birger viereinhalb Jahre alt war, wurde bei einer Untersuchung zum erstenmal die Diagnose Autismus gestellt. Ein niederschmetternder Befund: Autismus gilt bis heute als nahezu unheilbar.

Bis zu seinen ersten Schreibversuchen im Sommer 1990 lebte Birger wie ein geistig retardiertes Kleinkind zu Hause. Tagsüber wurde er in verschiedenen Horteinrichtungen des Berliner Vereins »Hilfe für das autistische Kind« betreut. Er lernte, sich allein anzuziehen oder zu waschen, verrichtete kleinere Arbeiten im Haushalt, entwickelte sich aber nie über die Infantilitätsgrenze hinaus.

In der Pubertätszeit wurde der Umgang mit ihm schwieriger. Birgers Verhalten wurde zwanghaft, er lebte in ständig wachsender Hektik, bekam Schreianfälle und biß und schlug sich bis aufs Blut. Der Junge trieb seine Eltern zur _(* Während des Schreibens mit seiner ) _(Mutter. ) Verzweiflung und in die Isolation. Seine Mutter: »Wir konnten niemanden mehr einladen, keine Bekanntschaften pflegen, nicht verreisen - es ging nur noch darum, den jeweiligen Tag zu überstehen.«

Bei alledem blieb Birger stumm, desinteressiert und scheinbar ohne kognitive Wahrnehmung. Seine Zukunft sah düster und hoffnungslos aus.

Mitunter hatten die Eltern jedoch das unheimliche Gefühl, daß ihr Sohn sie beobachtete und ihre Worte verstand. Dieses Gefühl gab auch den Ausschlag für den Versuch, per gestützter Kommunikation Kontakt mit Birger aufzunehmen. Ohne sich übermäßigen Hoffnungen hinzugeben, setzte sich Annemarie Sellin am 27. August 1990 mit ihrem Sohn an den Computer - und es funktionierte.

Was er tippte, verriet sofort, daß er in seinen stummen Jahren auf unerfindliche Weise lesen und schreiben gelernt haben mußte: Es waren die Buchstaben des Alphabets in der richtigen Reihenfolge. Kurze Zeit später gab er schon Wörter ein, die assoziativ verbunden waren. Dann brach ein Strom von Gedanken und Gefühlen aus ihm heraus, der Eltern, Therapeuten und Bekannten wie ein Naturereignis überkam. »Es war«, sagt seine Mutter, »als hätte man eine Quelle angestochen.«

Wie sich herausstellte, hatte Birger seine Situation jederzeit bewußt wahrgenommen und genau registriert, was um ihn herum geschah. Seit seinem fünften Lebensjahr beherrscht er die Schriftsprache. Die Bücher, die er zu Hunderten »durchblätterte«, hatte er in Wirklichkeit gelesen. Birgers fotografisches Gedächtnis - eine Fähigkeit, über die viele Autisten verfügen - ermöglichte ihm, auch die opulentesten Druckerzeugnisse in Minutenschnelle zu lesen; danach hatte der verschlossene Junge ja alle Zeit der Welt, die aufgenommenen Informationen zu rekapitulieren.

Die Eltern waren erschüttert: 18 Jahre hatten sie mit ihrem Sohn unter einem Dach gelebt und buchstäblich nichts von ihm gewußt.

Seit jenem denkwürdigen 27. August sitzt Birger Abend für Abend am Computer und schreibt. Da er nur einen Finger benutzen kann, verwendet er ausschließlich Kleinbuchstaben. Die typisch autistischen Ängste, zuviel von sich preiszugeben und einen inneren Sicherheitsverlust zu riskieren, wichen im Laufe der Zeit einem enormen Mitteilungsdrang. »du hast keine ahnung von einem leben in absoluter isolation es ist schlimmer so als eine gefangenschaft oder sogenannte isolierhaft ich ertrinke in einsamkeit«, beklagt _(* Birger Sellin: »ich will kein inmich ) _(mehr sein, botschaften aus einem ) _(autistischen kerker«. Hrsg. Michael ) _(Klonovsky. Kiepenheuer & Witsch, Köln ) _(1993; 214 Seiten; 29,80 Mark. ) sich Birger bei seiner Mutter, aber »ohne schreiben war das leben eine hölle«.

Immer wieder umkreisen seine Texte die quälende Einsamkeit, der er in seinem autistischen Kerker ausgesetzt ist, sowie seinen verzweifelten Kampf, aus der »welt der kastenmenschen« herauszufinden und ein normales Leben zu führen.

Er bezeichnet sich als »ohnemichgestalt die aus der dunkelheit der autistenwelt herausgetreten ist um mit menschenweltlern kontakt aufzunehmen«. Aus »wirklichkeiten zweiter ordnung schreibend«, sendet er »mitteilungen an das volk der oberwelt« - bestürzende Texte in einer ungemein kompakten Sprache, die seine Notschreie in den Rang des Literarischen erhebt. Die deutsche Gegenwartslyrik kennt nichts dergleichen.

Mit einer Auswahl seiner Arbeiten tritt der »undressierte affenmensch« und »terrorautist« Birger Sellin jetzt an die Öffentlichkeit*.
*VITA-KASTEN-1 *ÜBERSCHRIFT:

Autismus *

ist eine schwere Verhaltensstörung, die bereits in der frühen Kindheit zutage tritt. Rund 12 000 Deutsche leiden daran. Schon Kleinkinder lehnen jede Zuwendung ab, scheinen kaum emotionale Bindungen aufzubauen und ziehen sich völlig in sich zurück. Vor allem in Streßsituationen reagieren Autisten oft aggressiv, zumeist gegen sich selbst, oder beruhigen sich mit monotonen Bewegungen. Sie lernen nie richtig zu sprechen, einer von drei Behinderten bleibt zeitlebens stumm. Zwar können einzelne Symptome behandelt werden, die Störung ist jedoch vermutlich hirnorganisch bedingt und kaum heilbar. Auffällig ist, daß Eltern und Geschwister der Kranken oft überdurchschnittlich intelligent sind. Der amerikanische Spielfilm »Rain Man«, in dem Dustin Hoffman einen Autisten darstellte, machte die Behinderung einem Millionenpublikum bekannt.

* Während des Schreibens mit seiner Mutter.* Birger Sellin: »ich will kein inmich mehr sein, botschaften auseinem autistischen kerker«. Hrsg. Michael Klonovsky. Kiepenheuer &Witsch, Köln 1993; 214 Seiten; 29,80 Mark.

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