Adel Morbi aulici
Don Julius de Austria, Herr in Krumau bei Budweis, sah sich gern als »Caesar des Kaiserreichs": Er prügelte seine Diener, scherte sich nicht um die Bezahlung von Rechnungen und lud nach Belieben böhmische Mädchen auf seine Burg.
Mit kaum 20 Jahren machte er die Tochter eines Baders zu seiner Konkubine. Schon ein Jahr danach traktierte er auch sie in einem Wutanfall mit seinem Schwert und warf die Schwerverletzte aus dem Fenster. Sie fiel in den Burgteich und konnte sich nach Hause retten.
Den Vater, der sich einer Rückkehr der wieder genesenen Tochter auf die Burg widersetzte, ließ Don Julius in den Kerker werfen und wollte ihn zum Tode verurteilen. Die junge Frau steckte er in ein pelzgefüttertes Nachthemd, stach in rasender Wut auf sie ein, schnitt ihr die Ohren ab, stach ihr ein Auge aus, schlug ihr die Zähne ein und spaltete ihren Schädel. Anderntags betastete der nekrophile Herrscher die Leiche, nagelte den Sarg eigenhändig zu und bestellte für die tote Geliebte ein prachtvolles Begräbnis.
Vier Tage lang lief der Missetäter blutverschmiert durch die Stadt. Dienern und Untertanen wurde übel. Selbst Hunde, so Augenzeugenberichte, wichen dem Gewalttätigen aus. Erst einen Monat später wurde er von einem kaiserlichen Spezialkommando festgenommen. In der Zelle verweigerte der verrückte Liebhaber Kleidung, Kräuterbäder und Aderlaß: »Ihr Sacramentsnarren, laßt mich zufrieden.« Ein Jahr später starb der tobsüchtige Edelmann in der Haft.
Die Details über die Bluttat vor 400 Jahren hat der US-Historiker H. C. Erik Midelfort aus deutschen Archiven zusammengetragen. Durch großzügige Stipendien gefördert, wollte er den Wahnsinn im Deutschland des 16. Jahrhunderts erforschen.
Doch schon das Quellenmaterial allein über die Geisteskrankheiten an den Fürstenhöfen ("Morbi aulici") schwoll ihm zur wohl »größten Sammlung von Fallgeschichten und psychiatrischen Gutachten« an, die es für diesen Zeitraum über irgendein Land der Welt gibt**.
Unterschiedlichste Formen der Besessenheit waren an deutschen Fürstenhöfen der Spätrenaissance schier allgegenwärtig. »Beinahe jedes bedeutende Herrscherhaus«, resümiert der Autor, »steuerte einen Kandidaten zu meiner Liste bei.«
Das Buch des US-Forschers führt wie an einem Ariadnefaden in das Labyrinth eines düsteren Landes der Melancholie und paranoider Ängste - voll mit mehr oder minder unzurechnungsfähigen Fürsten, Bischöfen, Herzögen und Grafen samt Gemahlinnen.
Der mächtige Markgraf von Brandenburg, Georg Friedrich von Ansbach, zum Beispiel war Vormund eines irrsinnigen Vetters und konnte sich deshalb kaum um seinen geisteskranken Schwiegervater kümmern. Sein Mündel, Preußens Albrecht Friedrich, hatte bei der Hochzeit mit Marie Eleonore von Jülich-Kleve zum erstenmal auffällig gestutzt: »Das ist nicht meine Braut« - und laut ärztlichen Bulletins ließ er von dem »unsäglichen heimlichen Laster, das er seit vielen Jahren praktizierte, auch im Ehestand nicht ab«.
Gegen das Leiden empfahlen die Ärzte die Applizierung der Eingeweide eines frisch geschlachteten schneeweißen Hundes. Auch eine katholische »Zeuberin« sollte »dem bloden herrn zur gesuntheit helffen«. Doch der Kranke pflegte weiterhin Luther-Bilder zu zerreißen und sich in voller Montur schlafen zu legen, weil »Moskowiter und Türken Deutschland überziehen wollten«.
Gattin Marie Eleonore ihrerseits war familiär schon stark vorbelastet. Ihr Großvater hieß »der Einfältige«, und der Urgroßvater war mit 63 unehelichen Kindern als »Kindermacher« in die Geschichte eingegangen. Bei ihrem Bruder Johann Wilhelm stellte sich bald nach seiner Hochzeit eine »blödigkeit des gemuitz« ein.
Doch mit all der labilen Verwandtschaft nicht genug. Der schwergeprüfte Markgraf Georg Friedrich von Ansbach mußte auch noch für seine verwirrte Schwester Anna Maria sorgen, die als Witwe nach 24 Jahren Ehe und 12 Kindern unbedingt den 21jährigen Georg von Hessen heiraten wollte. Diese qualvolle, unerfüllte Sehnsucht, versicherte sie, sei »warlich kein angenommenes Ding oder Melancholey«.
Auch Schwester Barbara litt an schweren Depressionen. Und Tante Elisabeth war die Schwiegertochter des Markgrafen Christoph I. von Baden, der 1516 wegen »blodigkeit sins libs« von Kaiser Maximilian abgesetzt worden war.
Wegen Wahnsinns war auch schon Georg Friedrichs Großvater seines Amtes enthoben worden. Einen angeheirateten Verwandten, Graf Heinrich von Württemberg, hatte der Herzog von Burgund wegen »blodickhait« gefangengenommen und mit der Enthauptung bedroht.
»Es wäre interessant zu wissen«, meint Buchautor Midelfort lakonisch, »ob Georg Friedrich zu dem Schluß kam, seine ganze Welt sei dem Wahnsinn verfallen.«
Therapien für die Kranken wurden erst ganz allmählich eingesetzt. Die Lutheraner probierten es mit Beten, Singen und Fasten in der Gemeinde. Die Katholiken setzten auf strenge Exorzismen nach dem Rituale Romanum. Die Ärzte verharrten lange bei ihrem Aderlaß, gern auch an dem Körperteil, das »von nathur uneddel« ist. Für Edelleute gab es freilich auch Streichmusik und beruhigende Speisen wie Lerche, Fink, Kaninchen und Kapaun.
Die schlimmen Wirkungen der schwarzen Galle bedrohten nicht nur die 178 Reichsgrafen, die 88 Reichsäbte, die 21 Herzöge, Mark- und Landgrafen, die 50 Erzbischöfe und Bischöfe und die 7 Kurfürsten des zerstückelten Deutschen Reichs, sondern auch den Kaiser.
Rudolf II. (1552 bis 1612), der die Hektik und die Menschenmassen in Wien scheute und seine Residenz nach Prag verlegte, galt schon lange als »Einsiedler auf dem Hradschin«. Mit den Machtgelüsten seines Bruders Matthias wuchsen die Gerüchte über die »geschlechtlichen Ausschweifungen« am Hof des Kaisers, der mehrere uneheliche Kinder hatte, aber nicht heiraten wollte.
Ärzte bescheinigten dem Kaiser »im Haupt grosse Blödigkeit, Schwindel und Fluss«, die Kurie nannte ihn »unsinnich, besessen und unduchtich zum regiment«. Der Herrscher bekam Angst vor Gift, Pest und Kapuzinern, denen er das nächtliche Läuten der Glocken verbot.
Rudolf II. mied alle Kontakte. Sogar seinen Sohn, der drei Wochen lang auf dem Hradschin weilte, wollte er nicht empfangen. Er beobachtete ihn nur heimlich aus einem Fenster: Es war der junge Don Julius, der später so blutrünstige Kranke aus Krumau.
Die Kontaktarmut und der Wankelmut des Kaisers waren freilich viel schwerwiegender als die Bluttat des Sohnes. Aus dem »Bruderzwist im Hause Habsburg« ging Rudolf als Kaiser ohne Land hervor. Und der spätere »Prager Fenstersturz«, als Protestanten zwei kaiserliche Statthalter aus dem Hradschin warfen, war dann Auftakt für den Dreißigjährigen Krieg, der die Bevölkerung des Reichs um die Hälfte dezimierte
* Oben: Kupferstich eines unbekannten Künstlers; unten: beieiner Trinkkur, Gemälde von Lucas van Valckenborch.** H. C. Erik Midelfort: »Verrückte Hoheit. Wahn und Kummerin deutschen Herrscherhäusern«. Aus dem Amerikanischen von PeterE. Maier. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart; 272 Seiten; 38 Mark.