Mysteriöser Fall Waris Dirie "Sie hat sich doch nicht selbst geschlagen"
Hamburg - Waris Dirie wehrt sich mit derben Worten. Die Brüsseler Polizei erzähle "Mist", die Beamten hätten "Scheiße gebaut", sagt sie erregt. Seit Tagen schwelt ein für Beobachter zunehmend verwirrender Streit zwischen der Menschenrechtsaktivistin und belgischen Ermittlern. Die Frage ist: Was geschah wirklich während der zwei Tage, an denen Dirie vergangene Woche spurlos in Brüssel verschwunden war?
Waris Dirie ist es gewohnt, drastische Vokabeln zu wählen, wenn sie die Dinge beim Namen nennt. Immer wieder, in allen Details erzählt sie seit Jahren vor Mikrofonen und laufenden Kameras, wie ihr die Klitoris mit einer rostigen Rasierklinge abgeschnitten wurde.
Ungefähr vier Jahre war sie damals alt. Die brutale Prozedur wurde ohne Betäubung durchgeführt, dem Mädchen, das in den Armen seiner Mutter lag, wurde lediglich ein Stein zwischen die Zähne geschoben, um sie am Schreien zu hindern.
Seit Dirie 1996 diese Geschichte zum ersten Mal in einem Interview preisgab, gilt sie als prominenteste Aktivistin gegen Genitalverstümmelungen.
Seither kommen Einladungen, Anfragen und Hilfegesuche aus der ganzen Welt. An jedem Tag könnte Dirie mindestens fünf Termine annehmen, wenn ihre Zeit und ihre Kraft es zuließen. In einem ihrer ersten Fernsehinterviews sagte das Ex-Model, gefragt nach der Verstümmelungsprozedur: "Sie schlachten dich ab. Das ist genau das richtige Wort. Ich werde das niemals vergessen." Allein der Gedanke daran, was an jenem Tag passiert sei, bereite ihr noch heute körperliche Schmerzen.
"Manchmal braucht sie einfach eine Auszeit"
Waris erhält weltweit Ehrungen für ihren Kampf, dafür, dass sie ihre Geschichte unzählige Male erzählt, dafür, dass sie bereitwillig auch über ihr Sexualleben spricht. Keine Frage scheint zu intim, wenn es um die gute Sache geht. Ihre beiden Bücher wurden zu Bestsellern. Diries Manager Walter Lutschinger hat einmal gemutmaßt, es sei wohl die Mischung aus "Exotik und Betroffenheit", die Menschen animiere, Diries Bücher zu kaufen.
Nicht einmal die Drohungen, die sie immer wieder erreichen, halten Dirie von ihrem Kampf ab. Sie mache das nicht für die Anerkennung, hat sie immer wieder gesagt. Sie mache es, weil sie getrieben sei, zu helfen, weil sie wisse, wie sich Gewalt anfühlt - in dem Moment, in dem man ihr ausgeliefert ist, und ein Leben lang. Dirie spricht zuweilen ungehalten, manchmal laut fluchend. "Wie oft kann man, ohne Schaden zu nehmen, über das Abschneiden von Schamlippen und das Entfernen der Klitoris bei wehrlosen, schreienden, weinenden kleinen Mädchen reden?", hat sie vor einigen Jahren in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" gefragt. Für Dirie ist ihr Trauma zur Lebensaufgabe geworden.
"Die Genitalverstümmelte - das ist zu ihrem Job geworden"
"Das wird ihr manchmal ganz einfach zu viel. Manchmal braucht sie einfach eine Auszeit, dann sage ich die Termine ab", sagte Walter Lutschinger, seit sieben Jahren ihr Manager, SPIEGEL ONLINE. Dirie lebt heute in Wien, Lutschinger sortiert dort die Termine, koordiniert Einladungen und Vorträge und reserviert für Diries Reisen die Hotelzimmer unter falschem Namen.
Diries Offenheit, wenn es um ihre Geschichte geht, begeistert längst nicht jeden. "Sie müssen sich das vorstellen", sagt Lutschinger. "Sie steht unter einem enormen Druck. Immer wieder tritt sie auf und sagt: Schaut her, ich bin die Genitalverstümmelte. Das ist zu ihrem Job geworden."
Dass Dirie diesem Druck hin und wieder nicht standhält, vielleicht auch nicht standhalten kann, ist in Wien ein offenes Geheimnis. Dass Lutschinger seinen Schützling gelegentlich aus brenzligen Situationen navigiert, auch. Über ihr Alkoholproblem spricht die Frauenrechtlerin selbst offen.
Aber Alkohol oder Drogen seien bei Diries Irrfahrt durch Brüssel in der vergangenen Woche nicht im Spiel gewesen, insistiert Lutschinger. "Dass sie einfach mehrere Tage verschwindet, so etwas habe ich in all den Jahren nicht erlebt, das ist absolut untypisch." Und es wirft Fragen auf. In den vergangenen Tagen sind immer neue Details dessen, was zwischen Dienstagnacht und Freitagabend in der belgischen Hauptstadt passiert sein soll, aufgetaucht.
Zwischen Vorwurf und Rechtfertigung
Es gibt zwei Versionen: die der Menschenrechtsaktivistin und die der Polizei. Und beide werfen kein gutes Licht auf die Protagonisten - weder auf Dirie noch auf die Ermittler.
Ein Interview, das auf Youtube zu sehen ist, zeigt Dirie in ihrem Krankenhauszimmer in Wien. In einem Nachthemd und vor einer gelben Wand sitzend beschreibt sie, wie es aus ihrer Sicht dazu kommen konnte, dass die belgische Polizei eine Großfahndung eingeleitete und EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner über ihren Sprecher ausrichten ließ, sie sei über den Verbleib Diries "tief besorgt" - und sie erhebt schwere Vorwürfe gegen die belgische Polizei.
Diries Version und die ihres Managers lauten so: Nachdem sie in ihrem Hotelzimmer die Rede für ihren Auftritt vor dem EU-Parlament vorbereitet hat, fährt Dirie am Dienstag um kurz nach 24 Uhr mit einem Taxi und nichts als 20 Euro in der Tasche in einen Club. Lutschinger wird sie später sagen, sie habe nicht schlafen können und ein wenig tanzen wollen. In der Disco trinkt sie angeblich nur Wasser. Ein Taxi soll sie zurück zum Hotel bringen, doch Dirie landet vor dem falschen "Sofitel".
Die Polizei wird gerufen, der Streifenwagen klappert mit ihr verschiedene Hotels ab - erfolglos. Als aus der Unterhaltung im Wagen eine Auseinandersetzung wird, sollen die Polizisten gesagt haben: "Entweder du bist ruhig, oder wir sperren dich ein." Schließlich steigt Dirie aus und beschließt, Hilfe bei der nächsten Polizeistation zu suchen.
"Eine schöne Frau, du guckt man schon mal hin"
Doch auch dort bekommt sie angeblich keine Unterstützung. "Die Polizisten haben mich behandelt wie eine Prostituierte. Sie haben mir nicht geholfen. Sie haben mich rausgeschmissen, nur wegen meiner Hautfarbe", sagt Dirie in dem Youtube-Video.
Sie hält ein weiteres Taxi an, doch auf der Fahrt schläft sie ein. Der Taxifahrer soll Dirie zwei Tage in seiner Wohnung gefangengehalten und mehrfach versucht haben, sie zu vergewaltigen. Die Blutergüsse an beiden Schultern, die Kratzer an den Beinen, der geschwollene Fußknöchel und die Kopfschmerzen, die sie habe, seien eindeutige Beweise für die Brutalität des Mannes.
"Die hat sich ja nicht selbst geschlagen und die Verletzungen an den Schultern zugefügt", sagt Manager Lutschinger. Sogar auf die Toilette, sagt Lutschinger, sei der Kidnapper Dirie gefolgt. Am Freitag habe sie sich dann in einem günstigen Moment befreien und per Anhalter in die Innenstadt flüchten können.
In der Innenstadt trifft sie schließlich auf einen mehrfach vorbestraften Fensterputzer. Belgischen Medien erzählt der später, das Ex-Model habe mit ihm nach Hause gehen wollen. "Eine schöne Frau, da guckt man schon mal hin", rechtfertigte er sich gegenüber dem belgischen "Standaard". Dirie sagt, der Mann sei ihr gefolgt und habe auf sie eingeredet - allerdings auf Französisch, was sie nicht verstehe. Schließlich spricht eine Fahnderin in zivil sie an - da hatte das belgische Fernsehen schon mehrere Suchmeldungen gesendet.
Bei ihrer Vernehmung ist die Frauenrechtlerin ungehalten. "Warum haben Sie mich weggejagt?", fragt sie die Polizisten und verlangt einen Übersetzer. "Halten Sie den Mund, wir stellen hier die Fragen", soll die Beamtin erwidert haben. "Ich habe den Polizisten gesagt: 'Ich bin zweimal zu Ihnen gekommen. Und Sie wollen nach mir gesucht haben? Zwei Tage lang? Sie wollen gedacht haben, dass ich tot bin? Das ist doch Quatsch'", so Dirie in dem Video.
Zwischen Vorwurf und Rechtfertigung
Nach 20 Minuten sei das Gespräch abrupt beendet und Dirie zum Polizeipräsidenten gerufen worden. Der habe noch bekundet, dass seine Frau ein großer Fan sei und alle ihre Bücher gelesen habe - und dann die Medien informiert. Vor den Kameras spricht Dirie von einem Missverständnis, sie habe sich verlaufen. Keine Anschuldigungen gegen die Polizei, kein Wort von einem möglichen Verbrechen. Von einer versuchten Vergewaltigung ist erst am Sonntag die Rede, als sie und ihr Manager zurück in Österreich sind.
Die belgische Polizei weist die Vorwürfe zurück: Bei ihrer Vernehmung habe Dirie "nicht kooperieren " wollen, sei in der Nacht einfach aus dem Streifenwagen ausgestiegen. Der Brüsseler Polizeisprecher Christian De Coninck sagt SPIEGEL ONLINE, Diries Vorhaltungen seien "völlig falsch", die Vorwürfe des Rassismus unhaltbar. Dirie wolle nur von ihrem Fehlen bei wichtigen Terminen ablenken. "Sie versucht, sich zu rechtfertigen, weil es keinen guten Eindruck macht, wenn man zugeben muss, dass man Termine verpasst hat, weil man ausgegangen ist."
"Sie denken sich all diesen Mist aus, weil sie wissen, dass sie Scheiße gebaut haben", kontert Dirie im Krankenbett. Ihr Anwalt Gerald Ganzger will nun in Österreich Anzeige wegen Entführung und Gefangenschaft erstatten.
In Belgien werden die Vergewaltigungsvorwürfe nicht polizeilich untersucht: Es sei nicht üblich, aufgrund von Presseberichten Ermittlungen aufzunehmen, sagte ein Polizeisprecher. Für die Staatsanwaltschaft hat derzeit die Aussage Gültigkeit, die Dirie bei ihrer Vernehmung am Freitag gemacht hat. Von einer versuchten Vergewaltigung war da keine Rede.
Dirie selbst nutzt die Misere auf ihre Art und kämpft mit harten Worten. "Ich bedaure all die Migrantinnen, die nach Belgien kommen, weil ich nun weiß, wie man hier behandelt wird. Das ist eine Schande!"