Nach "Katrina" die Anarchie "Du plünderst, wir schießen"
Pascagoula - David Brooks besitzt nichts mehr außer seinem Truck. Sein Haus am Beach Boulevard von Pascagoula, vom Meer nur durch die Straße getrennt, ist verschwunden. Allein die grüne Stufe zur Veranda blieb und eine riesige Schlammpfütze voller winziger Holzschnipsel, darin schwimmt eine Klobrille. Wo mal das Schlafzimmer war, glänzen im Matsch drei Christbaumkugeln, golden und unversehrt, ein bizarrer Anblick. "Die sind aus dem Haus von Freunden", sagt Brooks. "Drei Straßen weiter."
Pascagoula an der US-Golfküste: "Mississippis Vorzeigestadt", wie sie sich bisher rühmte. Das Schicksal dieses Ortes, dessen Küstenviertel von "Katrina" ausgelöscht wurde, macht einem die ganze Dimension dieser Katastrophe erst klar - und das ganze Kaleidoskop der Gefühle, die nun folgen.
Erst waren es Schock, Trauer, Panik, Trotz, Galgenhumor. Inzwischen sind es Frustration, Wut, mancherorts sogar Aufruhr über den stündlich eskalierenden Notstand, der so viel schlimmer ist, als es die Beschreibung "temporäre Disruption" glauben macht, die Präsident George W. Bush gestern für die Lage fand. Nicht nur in der Hölle von New Orleans, sondern auch hier im ländlichen Mississippi, wo sich manche Opfer vergessen fühlen: von den Landsleuten, von den Helfern, von den Medien.
Zum Dritte-Welt-Dorf mutiert
Die, die in Pascagoula überlebt haben, greifen zur Selbsthilfe. An der Haupteinfallstraße, von abgerissenen Oberleitungen übersät, hängen zwei Schilder. "Nur Anwohner", steht auf dem einen, in roter Farbe gepinselt. "Du plünderst, wir schießen", auf dem anderen. Selbsthilfe mit Waffengewalt: Die überforderte Polizei hier musste, wie Vizepolizeichef Scott Ferguson mitteilt, Dutzende Plünderer laufen lassen - das Gefängnis hat weder Strom noch Wasser.
Ein Pickup-Truck fährt vorbei, darin eine Bande Jugendlicher. "Essen und Wasser um fünf Uhr an der Church of God!", rufen sie. "Alle sind willkommen! Der Herr sei mit euch!" In Pascagoula gibt es noch immer keine Lebensmittel und kein Trinkwasser, alle Läden und Leitungen sind zerstört. Benzin ist nicht zu bekommen, "Katrina" hat die Tanksäulen aus dem Boden gerupft wie Steckrüben. Das Telefonnetz, das Notrufnetz funktioniert nicht. Pascagoula, die stille Perle am Golf, ist zu einem Dritte-Welt-Dorf mutiert. Wer kann, ist geflohen. Wer das nicht kann, ist arm dran.
Das Hafenviertel sieht aus wie eine Special-Effects-Szene aus einem Horrorfilm. "Katrina" traf den Ort hier frontal, eine zehn Meter hohe Wasserwand mit sich treibend. Deren Druck war so stark, dass die Jachten und Sportboote Hunderte Meter landeinwärts zu liegen kamen.
Wie einst nach den Terrorangriffen in New York
Die meisten Gebäude hier gibt es nicht mehr. Anderen quellen die zerfetzten Eingeweide aus den Wänden. Häuser ohne Dächer, Dächer ohne Häuser, nichts mehr dort, wo es stand. Kilometerweit alles übersät von den Resten einer Küstenstadt, in der viele Familien lebten, einige wohlhabend, andere ärmer. "Katrina" kannte keine Klassen, die Welle schuf eine egalitäre Trümmerwüste: Holz, Sofas, Sessel, Stühle, Truhen, Bettgestelle, Fernsehröhren, Computer, Schuhe, Footballs, Fahrräder, Gartengrills, Wippschaukeln, Topfdeckel, Kaffeekannen. Eine Trümmerwüste, durch die jetzt die traumatisierten Bewohner stolpern, heulend, jammernd, wütend, meist aber still.
Am Ende des Beach Boulevards wohnte auch der republikanische Ex-Senator Trent Lott. Sein Haus, Baujahr 1854, wurde komplett weggeschwemmt, nur der Betonboden blieb. Lott wurde gesichtet, wie er eigenhändig durch den Schlamm kroch, nach Resten suchend.
"In den Sackgassen trieben Leichen", sagt Kelly Douglas, die ebenfalls ihr Haus verlor. "Grauenhaft." Wie viele in Pascagoula umkamen, weiß noch keiner. Ein Kühlwagen ist vorbeigekommen, um Tote einzusammeln - ein fahrbares Leichenschauhaus, wie sie an der Golfküste zum Alltagsanblick werden. Douglas' Nachbarn werden noch vermisst. Suchanrufe bei den Radiosendern, die sich hier der Familienzusammenführung widmen wie einst auch in New York nach dem 11. September 2001, ergaben nichts.
Nur zwei Windjacken blieben
David Brooks, der nur mit einem Koffer und seinem Hund vor dem Sturm floh, ist mit dem letzten Tropfen Sprit zurückgekehrt, um zu retten, was zu retten ist: Wertsachen, Erbstücke, Dokumente. Alles ist weg. "Zum Glück bin ich versichert", sagt er trocken.
Erst vor vier Monaten war Brooks, ein 30-jähriger Manager beim Ölkonzern Chevron in Pascagoula, hergezogen, in eines der viktorianischen Häuschen, die die Uferstraße schmückten. "Hier war meine Veranda", zeigt er. "Alles aus Holz." Er stockt. Sein Freund Mark Ahbert, 35, der mit ihm die Trümmer durchsucht, klopft ihm auf den Rücken: "Haus weg, aber am Leben." Seine Worte werden von drei Militärhubschraubern übertönt, die über ihre Köpfe knattern, Richtung New Orleans.
Brooks findet schließlich noch ein paar Habseligkeiten: zwei Windjacken, feucht, schlammverschmiert. Er hievt sie auf seinen Truck und spuckt in den Schlamm. Sein Kajak entdeckt er später mehrere Hundert Meter weiter, samt Paddel und Schwimmweste.
Vier unbeschädigte Gläser
Nanette Clark überlebte "Katrina" im zweiten Stock ihres rosa Zuckerbäckerhäuschens, das wie durch ein Wunder stehen blieb. Sie hatte sich geweigert, die Stadt zu verlassen. "Dies ist doch mein Zuhause", sagt sie stur. Am Tag nach dem Sturm stand sie auf dem Balkon und vertrieb einen Plünderer mit Gewehrschüssen.
Viele fragen sich: Warum blieben so viele freiwillig, als "Katrina" nahte? Warum wurde die Wucht des Sturms so unterschätzt? "Ehrlich gesagt, wir fühlten uns unverwundbar", sagt der Pharmavertreter Ernie Lewelling, der mit Frau Christie und drei Kids kopfschüttelnd vor den Resten ihrer Existenz steht. "Erst sollte 'Dennis' der große Brecher werden und zog vorbei. Dasselbe mit 'Camille'. Auch 'Katrina' drehte erst im letzten Moment auf uns zu."
Lewellings Haus ist aus Ziegeln, was die Mauern rettete. Doch hinter der Tür gähnt eine schlammverkrustete Höhle, in der das Wasser zwei Meter hoch tobte: Kleider, Bücher, Spielzeug, ein Kinderwagen, Fotos, mehr ist nicht mehr übrig. Und vier Gläser, in der Küche im Regal - unbeschädigt.
Niedrige Toleranzschwelle für Plünderer
Hinter dem Haus liegen sieben Kühlschränke, die "Katrina" hier deponiert hat. Und im Vorgarten liegen die Dächer von drei anderen Häusern: ein rotes Dach von gegenüber, ein grünes von nebenan und ein Ziegeldach, das über fünf Blocks hergeschwemmt wurde.
Selbst die Trümmer werden verteidigt. "Schau mal", sagt der Meeresbiologe Jay Jay McCool, 42, und schlägt eine feldgrüne Plane auf der Ladefläche seines Anschleppwagens zurück. Darunter: acht Gewehre. "Winchester", sagt McCool, der einen Elefantenzahn um den Hals trägt. Ein Freund hat die Waffen aus den Trümmern geborgen - nicht nur aus Sammlerliebe: "Plündereien tolerieren wir hier nicht."
Zwei Tage nach "Katrina" gebar McCools Frau ein Baby, einen Jungen namens Elliot Norman. "Es gibt noch gute Nachrichten." Jetzt fährt er durch Pascagoula und bietet jedem Hilfe an: Wasser, Sprit, Räumgerät. "Ich habe sechs Hurrikane überlebt, doch so was Schreckliches habe ich noch nie gesehen." Zugleich habe ihm der Hurrikan aber auch gezeigt, dass es "wichtigeres gibt als ein Auto und ein Haus".
"Wir werden wiederaufbauen"
Manche hier fürchten indes, dass der Rest der Welt das Ausmaß ihres Elends nicht begreift. "Ich hoffe, dass alle Amerikaner jetzt zusammenhalten und uns unter die Arme greifen", sagt Nicki Heill, die mit ihrer Freundin Sarah Logan durch die Trümmer des Hauses ihrer Großmutter steigt. "Wenn so was in Manhattan passiert wäre, hätte der Präsident bestimmt die Armee in Marsch gesetzt. Doch Mississippi fällt da schnell unter den Tisch."
Immerhin: Ein einsamer Feuerwehrwagen schlängelt sich durchs Trümmergewirr, gefolgt von einem Reparaturfahrzeug der Stromgesellschaft. Doch am Notwendigsten mangelt es hier weiterhin. "Eis, Eis!", ruft ein Junge aus einem Laster herab. "Wer braucht Eis? Wir haben Eis gefunden!" Das Eis stammt von einer Versorgungsstelle, die viele von hier aus nicht erreichen können. Schnell ist es weg.
Vier Jahre ist es her, dass Ernie Lewelling mit seiner Familie nach Pascagoula gekommen ist, um sich sein Traumhaus zu bauen. Zwei Tage vor "Katrina" haben sie im Garten noch einen Geburtstag gefeiert und waren bei den Nachbarn im Pool schwimmen. Und nun? "Wir werden wiederaufbauen", sagt Lewelling und stapft durch den Schlamm. "Genau hier, an dieser Stelle. Dieser Ort ist unsere Heimat."