Prozess in Erfurt Triumph der Neonazis

Rechtsextreme überfielen eine Kirmesgesellschaft im thüringischen Ballstädt. Sieben Jahre später sollen sie nach Absprachen Bewährungsstrafen bekommen. Betroffene fürchten eine verheerende Signalwirkung.
Angeklagter im zweiten Ballstädt-Prozess in Erfurt: Nebenklagevertreter sprechen von »Willkür«.

Angeklagter im zweiten Ballstädt-Prozess in Erfurt: Nebenklagevertreter sprechen von »Willkür«.

Foto: Martin Schutt / picture alliance / dpa

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Maskiert stürmten ein Dutzend Neonazis den Saal des Kulturzentrums in Ballstädt, einem Ort nördlich von Gotha. Wie von Sinnen prügelten sie ein auf Helfer der alljährlichen Kirmes, die dort feierten. Dann rannten die Gewalttäter fort, zehn Personen ließen sie teils schwerverletzt zurück. Der Überfall in der Dunkelheit dauerte keine drei Minuten. Der Staatsanwalt wird später von einem »Rollkommando« sprechen. Es war die Nacht zum 9. Februar 2014.

Elf Schläger, bekannte Thüringer Rechtsextremisten, verurteilte das Landgericht Erfurt danach zu Haftstrafen bis zu dreieinhalb Jahren. Rechtskräftig wurde das Urteil nicht, der Bundesgerichtshof hob die Entscheidung auf. So begann im Mai der Prozess erneut vor einer anderen Kammer.

Die wird am Montag – mehr als sieben Jahre nach der Attacke – neun der Schläger wegen gefährlicher Körperverletzung nun zu Bewährungsstrafen verurteilen, nachdem sie ihre Beteiligung an dem Angriff gestanden haben. Gegen zwei weitere Angeklagte wurde das Verfahren eingestellt, sie müssen 6000 bzw. 3000 Euro Geldauflage zahlen.

»Sie werden weitermachen wie bisher«

Es ist das Ergebnis einer Absprache zwischen Richtern, Oberstaatsanwalt und Angeklagten beziehungsweise deren Verteidigern. Die Beratungsstelle ezra für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen sieht darin ein verheerendes Signal an die rechte Szene, die im Freistaat unverändert stark ist. »Die angeklagten militanten Neonazis und ihre Unterstützer:innen werden diese Hauptverhandlung mit einem breiten Grinsen hinter sich lassen und mit dem Wissen, dass die Thüringer Justiz ein ausgewachsenes Problem mit der Strafverfolgung rechter Gewalttaten hat, weitermachen wie bisher«, sagt Franziska Schestak-Haase, Beraterin bei ezra.

Eine wohl zutreffende Prognose. Die meisten Angeklagten sind thüringenweit bekannt, gelten als gewaltbereit und gut vernetzt. Entsprechend war die Unterstützung ihrer Kameraden, die – ihre Gesinnung teils eintätowiert und stolz zur Schau tragend – den Prozess im Zuschauerraum verfolgten, wie Besucher berichten.

Auch der Angeklagte David S. spazierte in den Gerichtssaal und präsentierte ein Auschwitz-Tattoo. Mit ihm auf der Anklagebank: Marcus R., er trägt auf dem Schädel eintätowiert den Schriftzug »Combat18«, den Namen einer verbotenen, rechtsextremen Gruppierung. In seinem letzten Wort sagte R. Prozessbeteiligten zufolge über sich selbst: »Bewährung bei einem Typen wie mir ist sicher schwierig.«

Politischer Angriff oder Racheakt?

Oberstaatsanwalt Hannes Grünseisen verteidigt die Verständigung. Nur in drei Fällen hätte die Staatsanwaltschaft im ersten Verfahren Freiheitsstrafen ohne Bewährung beantragt. Inzwischen müsse die »extrem lange Verfahrensdauer« strafmildernd berücksichtigt werden, sagt er. Gleiches gelte für die Geständnisse. Verfahrensabsprachen seien in der Strafprozessordnung geregelt. »Diese gilt für alle Angeklagten, egal ob groß oder klein, dick oder dünn, schwarz oder weiß, rechts oder links und sogar für ›Nazis‹.«

Es sei richtig, dass die Angeklagten »zumindest größtenteils der extremen rechten Szene zuzuordnen sind oder waren«. Ein politisches Motiv aber könne man nicht nachweisen, so Grünseisen. Vielmehr sei der nächtliche Überfall ein Racheakt oder ein Fall von Selbstjustiz gewesen.

Mehrere Angeklagte hatten in ihren Geständnissen ausgesagt, am selben Abend sei im »Gelben Haus«, einem Neonazi-Treffpunkt in Ballstädt, eine Scheibe eingeschlagen worden. Das mache es »keinen Deut besser«, sagt Grünseisen. Die Opfer jener Nacht seien keine politischen Gegner gewesen. Er sei davon überzeugt, dass es auch Ortsfremde getroffen hätte, hätten sie in jener Nacht im Gemeindesaal in Ballstädt gefeiert, so der Staatsanwalt.

Nach dem Angriff im Kulturzentrum Ballstädt: Der Staatsanwalt nannte es ein »Rollkommando«.

Nach dem Angriff im Kulturzentrum Ballstädt: Der Staatsanwalt nannte es ein »Rollkommando«.

Foto: Martin Schutt/ dpa

»Wenn Nazis aus dem Drang nach Rache und Vergeltung die Mitglieder einer Kirmesgesellschaft angreifen, weil sie wissen, dass sie deren neonazistische Ideologie ablehnen, dann ist das eindeutig ein Akt rechter Gewalt«, sagt Schestak-Haase. Seit Jahren fordere ezra die Einrichtung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften. Das Ballstädt-Verfahren sei der tragische Beweis dafür, dass diese Forderung absolut notwendig bleibe.

Auch eine Schwerpunktstaatsanwaltschaft hätte zum Motiv nicht anders argumentiert und die lange Verfahrensdauer bei Gericht nicht verhindern können, entgegnet Grünseisen.

Die Nebenklagevertreter empfinden den geplanten Deal bei der Schwere der Gewalttat als »skandalös« und stellten im Prozess zwei Befangenheitsanträge gegen das Gericht, die abgelehnt wurden. Sie beantragten zudem das Beiziehen von Ermittlungsakten zu einer Razzia gegen mutmaßliche Mitglieder der rechtsextremen Bruderschaften »Turonen« und »Garde 20«, nachdem drei der Angeklagten in diesem Zusammenhang festgenommen worden waren und seither in Untersuchungshaft sitzen. Die Männer sollen noch während des ersten Prozesses die Kameradschaft aufgebaut und im großen Stil mit Drogen gehandelt haben.

Einer von ihnen ist der mutmaßliche Haupttäter beim Angriff von Ballstädt: Thomas Wagner, eine Szenegröße in Thüringen mit insgesamt 24 Einträgen im Bundeszentralregister. Er soll in jener Nacht mit Protektorenhandschuhen und einer Totenmaske verkleidet den Gemeindesaal gestürmt haben. Der 45-Jährige wohnt seit Jahren im »Gelben Haus«, der alten, gelb gestrichenen Dorfbäckerei. Sie gilt als Festung der ansässigen Neonazis.

»Angst und Schrecken«

Das Landgericht Erfurt wird berücksichtigen, dass Wagner seit 2013 nicht mehr straffällig wurde. Wegen der Unschuldsvermutung werden die aktuellen Ermittlungen nicht berücksichtigt. Müssten sie aber, sagt Nebenklagevertreter Alexander Hoffmann. Die Vorwürfe sprächen eindeutig für eine schlechte Prognose und gegen eine Bewährungsstrafe.

Auch deshalb verzichteten am Ende dieses zweiten Prozesses alle Nebenklagevertreter auf Plädoyers. Das Ergebnis dieses Verfahrens habe bereits vor Beginn festgestanden, sagt Hoffmann und spricht von »Willkür«. Um Absprachen wie sie in diesem Fall zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigern erfolgten, zu verhindern, fehlen der Nebenklage die juristischen Möglichkeiten.

Für die Betroffenen ist der Ausgang des zweiten Verfahrens belastend. »Das Problem ist nicht ein Deal an sich, sondern dieser Deal mit Angeklagten mit massiven Vorstrafen«, sagt Hoffmann. Mitnichten sei der nächtliche Angriff nur eine Racheaktion gewesen für ein kaputtes Fenster. Vielmehr hätten die Täter »Angst und Schrecken« verbreiten wollen. »Das ist eine Machtergreifungsstrategie mit einem politischen Ziel«, sagt Hoffmann.

Wagner soll in der Nacht einen Kameraden angerufen und gesagt haben: »Es gibt Stress mit Gothaer Zecken, biste dabei, ja, nein!?« So steht es in Protokollen abgehörter Telefonate. Für die Nebenkläger ein klarer Beleg dafür, dass sich »die geplante Gewalttätigkeit subjektiv gegen Menschen richtete, die als politische Gegner verstanden werden«.

Verteidiger treten nach

Für die Opfer jener Nacht ist das Urteil auch deshalb schwer auszuhalten, weil sie den Angreifern in dem kleinen Ballstädt nicht aus dem Weg gehen können. »Die Täter laufen weiterhin stark und selbstbewusst durch unseren Ort«, sagt eine Betroffene. »Jederzeit ist mit einem erneuten Angriff zu rechnen, sie fühlen sich stark und erfahren keine Konsequenzen.« Ein Urteil, wie es am Montag verkündet werden soll, sagt Anwalt Hoffmann, sei für sie »ein Schlag ins Gesicht«.

Hinzukommt das triumphierende Verhalten der Verteidiger. Vertreten werden die Angeklagten von Szeneanwälten wie Wolfram Nahrath und Olaf Klemke, die im NSU-Prozess in München die Bühne für ihre Propaganda nutzten. Sie zeigen sich äußerst zufrieden über die Verständigung.

Er könne »die Enttäuschung der Nebenkläger nachvollziehen«, sagt Klemke. Er gebe jedoch zu bedenken, »dass das deutsche Strafrecht auf dem Schuldprinzip fußt und nicht der Vergeltung dient«. Dann tritt er nach: »Ich halte das Institut der Nebenklage ohnehin für einen Fremdkörper im deutschen Strafverfahren. Ihm wohnt die Tendenz inne, die Strafverfolgung zu privatisieren.« Die Nebenklage gehöre deshalb »abgeschafft«.

Verteidiger Nahrath betont noch einmal, dass die Beweisaufnahme gezeigt habe, »dass es nicht ein geplanter Überfall aus politischer Motivation gegen Andersdenkende war, sondern eine anlassbezogene Tat, die durch einen (wiederholten) Anschlag auf das ›Gelbe Haus‹ ausgelöst wurde. Kurz: Kein Steinwurf – kein Vorfall.« Zudem habe bei einigen Angeklagten »ein übermäßiger Alkoholkonsum auf einer Party enthemmend gewirkt«.

Hendrik Lippold, der ebenfalls einen Angeklagten verteidigt, findet »skandalös«, dass »die Frage Deal oder kein Deal sogar im Thüringischen Landtag thematisiert wurde«. Es gelte die Gewaltenteilung und Unabhängigkeit der Gerichte, wer das nicht akzeptiere und auf diese Weise versuche, auf Prozesse Einfluss zu nehmen, »der ist demokratiefeindlich«.

»Tod in Kauf genommen«

Den Betroffenen sei es nicht nur um Aufklärung, sondern besonders um »Anerkennung und Verurteilung der rechten Gewalttat sowie angemessene Strafen« gegangen, sagt Franziska Schestak-Haase, die ezra-Beraterin.

»Die haben den Tod in Kauf genommen. Es ist absolut unverständlich, dass die Täter:innen damit überhaupt noch auf freiem Fuß sein können«, sagt eine Betroffene. Der knapp dreiminütige Überfall wirke nach. Jede zugeschlagene Tür, jeder Knall, jede Sirene lösten bis heute Panik in ihr aus.

Franziska Schestak-Haase kritisiert auch den Umgang des Gerichts mit den Betroffenen, die in diesem zweiten Prozess erneut aussagen mussten, »um die halbseidenen Geständnisse der Täter zu belegen und damit die Deals für die Angeklagten zu ermöglichen«. Einem Betroffenen, der in seiner Zeugenaussage darauf hinwies, habe die Vorsitzende Richterin geraten, seine Aussage als Chance zu nutzen, um aus der »Opferrolle« herauszukommen.

»Die Betroffenen sind keine Opfer, sie sind Teil einer immer wieder von der Politik geforderten Zivilgesellschaft, die sich gegen Nazis positioniert und nun werden sie im Stich gelassen, ihre Perspektive bleibt unberücksichtigt«, kritisiert Schestak-Haase. Die Richterin habe alle Betroffenen, die als Zeugen aussagten, nach ihrem zivilgesellschaftlichen Engagement und dem Steinwurf auf das »Gelbe Haus« befragt, der Auslöser für den Angriff gewesen sein soll. »Der Zusammenhang ist widerlegt, dennoch fragte die Richterin immer wieder danach und schreibt damit die Täter-Opfer-Umkehr fort.«

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