Fall Nicola Bulley Amateure spielen online Ermittler – und bringen ein Dorf gegen sich auf

Fast vier Wochen galt eine Frau aus Lancashire als vermisst. Der Fall schlug hohe Wellen, auch, weil eine Armada an Hobbydetektiven wilde Theorien verbreitete. Kritik gibt es ebenso an Polizei und Medien.
Vermisstenplakat in Lancashire: Nicola Bulley ist tot

Vermisstenplakat in Lancashire: Nicola Bulley ist tot

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PHIL NOBLE / REUTERS

Der Fall bewegte die Menschen in Großbritannien: Am 27. Januar verschwand Nicola Bulley in Lancashire im englischen Nordwesten. Die Polizei suchte wochenlang nach ihr und fand erst am vergangenen Sonntag eine Leiche. Seit Montag ist klar: Es handelt sich um Bulleys Körper. Nun gibt es heftige Kritik an der Medienberichterstattung zu dem Fall.

»Wir werden nie wissen, was Nikki in ihren letzten Augenblicken durchgemacht hat«, erklärte Bulleys Familie. Die öffentlichen Spekulationen auch in der Presse seien »absolut entsetzlich« gewesen. Die Sender ITV und Sky hätten direkten Kontakt mit der Familie aufgenommen, obwohl »ausdrücklich« um Privatsphäre gebeten worden sei.

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Die britische Medienaufsicht Ofcom forderte ITV und Sky daraufhin eigenen Angaben zufolge auf, sich zu erklären.

Bulleys Verschwinden wurde zum Medienspektakel: Britische Medien stürzten sich regelrecht auf den Fall der Finanzberaterin. Aber auch ihr Lebensgefährte selbst wandte sich an Medien, sprach öffentlich über die Suche nach seiner Frau. »Es ist die Hölle auf Erden«, sagte er.

Der »Guardian« beschreibt die wichtigsten Entwicklungen des 27. Januar chronologisch:

  • 8.50 Uhr: Beim Spaziergehen wird Bulley das letzte Mal von einem anderen Hundeführer gesehen.

  • 9.01 Uhr: Die Finanzberaterin wählt sich in eine Onlinekonferenz ihrer Arbeit ein.

  • 9.30 Uhr: Die Konferenz endet. Auf ihrem Smartphone bleibt Bulley jedoch eingeloggt.

  • 9.35 Uhr: Ein anderer Hundeführer findet das Smartphone und den Hund an einer Parkbank.

  • 11 Uhr: Bulley wird bei der Polizei als vermisst gemeldet.

Zwar teilte die Polizei bereits am 3. Februar mit, dass es keine Hinweise auf eine Beteiligung Dritter gebe und man vermute, die 45-Jährige sei in einen Fluss gefallen. Dennoch entwickelte sich auch in den sozialen Netzwerken ein regelrechter Hype.

Besonders präsent war das Thema auf TikTok, wo dessen berühmt-berüchtigter Algorithmus bei der Verbreitung fragwürdiger Inhalte half. Die Kurzvideo-App hat immer wieder Probleme mit Falschinformationen und Verschwörungstheorien, die häufig ungefiltert zwischen Alltagsvideos auftauchen. Gerüchte und eigenwillige Theorien zum Fall Nicola Bulley wurden tausendfach gelikt und kommentiert, einzelne Nutzer fuhren sogar selbst zum angeblichen Tatort.

Zum Ziel vieler »Hobbydetektive«, wie die Polizei sie nannte, wurde unter anderem Bulleys Lebensgefährte. Influencerinnen und Influencer filmten auf eigene Faust in dem Dorf namens St Michael’s on Wyre und sprachen Passanten an. »Es war absolut schrecklich anzusehen, wie Großbritannien den Fall Nicola Bulley wie eine True-Crime-Dokumentation auf Netflix behandelt hat«, schreibt eine Nutzerin bei Twitter.

TikTok selbst teilte mit, man werde »Maßnahmen« gegen Personen ergreifen, die im Kontext des Falls Bulley gegen Richtlinien verstoßen hätten. Zuvor hatten Medien bereits berichtet, dass ein Influencer festgenommen und zu einer Geldstrafe verurteilt worden war.

Das Internet und echte Kriminalfälle

Es ist nicht das erste Mal, dass Amateure anfangen, online gemeinsam Ermittler zu spielen. Nach dem Anschlag auf den Boston-Marathon 2013 etwa blieb zunächst unklar, wer hinter der Tat stand, es existierte jedoch viel Bild- und Videomaterial. So fühlten sich seinerzeit Reddit-Nutzer berufen, die Tat aufzuklären. Die Aktion endete mit einer Entschuldigung der Reddit-Betreiber an die Familie eines Studenten, der eine Woche nach dem Anschlag tot aufgefunden und schon seit Längerem vermisst worden war. Der Student hatte nichts mit dem Attentat zu tun, auf Reddit jedoch hatte es geheißen, er sei wie eine weitere unbeteiligte Person ein Hauptverdächtiger.

Fragwürdige Verdächtigungen echter Personen gab es auf Reddit auch in den folgenden Jahren häufiger, etwa in Subreddits zu True-Crime-Dokus wie »Making a Murderer«. Auch zum Fall von Nicola Bulley wird bei Reddit diskutiert, dort existiert sogar ein ganzes Forum dazu.

Die Polizei in Lancashire bezeichnete die Spekulationen um Bulley als »völlig inakzeptabel«. Jedoch gerieten die Behörden auch selbst in die Kritik, weil sie erklärten, Bulley habe früher erhebliche Probleme mit Alkohol gehabt. Es hieß, die Alkoholsucht sei eine große Herausforderung für ihren Partner und die Familie mit zwei Töchtern gewesen. Bulley habe auch mit ihren Wechseljahren zu kämpfen gehabt.

Die konservative Abgeordnete Alicia Kearns twitterte, sie könne nicht nachvollziehen, wie dies den Ermittlern bei ihrer Suche nützen könne. »Ich kann aber sehr wohl sehen, wie es denjenigen nützt, die das Opfer beschuldigen oder herabwürdigen wollen«, schrieb sie.

Die Polizei rechtfertigte die Aussagen damit, dass man weitere Spekulationen habe verhindern wollen. Die Familie war eigenen Angaben zufolge über das Statement der Polizei informiert gewesen. Nach der scharfen Kritik kündigte die Polizei von Lancashire jedoch an, eine interne Untersuchung durchführen zu lassen.

Nach dem Leichenfund hofft Bulleys Familie nun, endlich zur Ruhe kommen zu können. »Lasst uns jetzt in Ruhe«, heißt es in dem von der Polizei veröffentlichten Statement. »Endlich bist du keine vermisste Person mehr, Nikki. Du wurdest gefunden, wir können dich jetzt ruhen lassen.« Und: »Von hier an übernehmen wir.«

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