FORSCHER Niemand kann sie stoppen
Erst sieht es aus, als kennten sich die beiden Männer nicht. Der eine, 44 Jahre alt, geht die Treppe hinauf, der andere, 76 Jahre alt, kommt die Treppe herunter. Universität Hamburg, Hauptgebäude, ein Montagabend. Der jüngere Mann ist André Rosenthal, Deutschlands erfolgreichster Genom-Forscher. Er ist auf dem Weg zu einem Hörsaal, wo er gleich einen Vortrag halten wird: »Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms: Segen oder Fluch?«
Der Mann, der ihm auf der Treppe entgegenkommt, trägt eine grüne Baseballkappe. Sie sind nur noch zwei Stufen auseinander, und noch immer erwecken sie den Eindruck, achtlos aneinander vorbeigehen zu wollen. Dann bleibt Rosenthal stehen, schaut den alten Mann an und lächelt, ein bisschen scheu. Der andere grinst. »Ich bin sein Vater«, sagt er, und nahtlos folgt der Satz: »Ich bin an allem schuld.«
Ein Satz mit vielen Bedeutungen. Zum einen und vor allem ist es der ironisch verkleidete Stolz auf einen Sohn, der den größten deutschen Beitrag zur Entschlüsselung des humanen Genoms geleistet hat und sich nun anschickt, die Ergebnisse in neue Krebstherapien umzuwandeln.
Zum anderen ist es eine Anspielung auf die Ängste, die ein Mann wie André Rosenthal auslöst, vor allem die Angst vor schweren Verletzungen der Würde des Menschen. Es ist die Arbeit der Genforscher, die ständig neue ethische Fragen aufwirft und die Politik vor sich hertreibt: Wie umgehen mit embryonalen Stammzellen und Präimplantationsdiagnostik (PID)? Zwar forscht Rosenthal nicht auf diesen aktuell umstrittenen Gebieten. Aber er greift in die ethischen Diskussionen ein. Er weiß, dass jetzt die Weichen für die Genforschung insgesamt gestellt werden.
Und es gibt eine dritte Bedeutung im Satz des Vaters. Was macht einen André Rosenthal zu dem, was er ist? Wo kommt er her, was treibt ihn an, wer hat »Schuld« an dem, was er tut? Dahinter steckt die wichtigste aller Fragen: Könnte man ihn und die anderen Genforscher stoppen, könnte man den Fortschritt in der Biotechnik aufhalten?
André Rosenthal ist mittelgroß, seine Haare sind dunkel, er hat eine leise, langsame Art, sich zu bewegen. Seine Stimme ist weich wie die eines Kindes. Er redet nicht schnell, aber viel. Das Wort, das er am meisten benutzt, heißt »kompetitiv«.
Als Rosenthal Ende der neunziger Jahre an der Universität Jena damit beschäftigt war, das humane Genom zu entschlüsseln, fühlte er sich »intellektuell nicht herausgefordert«. Den Bauplan des Menschen lesbar zu machen war für ihn Routine geworden.
Er hatte ein Angebot des Pharmakonzerns Schering. Sie wollten ihm Geld geben, er könne damit machen, was er wolle. Rosenthal dachte sofort an Krebs, eine der größten Geißeln der Menschheit. Er sagt, es gebe »eine ungeheure Notwendigkeit für die Entwicklung neuer Medikamente, die Patienten sterben weg«. Er sagt auch, dass ein erfolgreiches Medikament, »ein Blockbuster, zwischen einer und vier Milliarden Mark Umsatz erzielen« könne.
Auf die Frage, ob ihm Geld viel bedeute, sagt er nein. Er wolle nicht verhungern, das sei alles. Gleichwohl erwähnt er die Milliarden wiederholt, manchmal sind es Mark, manchmal Euro, manchmal Dollar. Aber er wirkt nicht gierig dabei. Sein Büro ist schlicht, ein Bild, ein Stoffäffchen, eine Topfpflanze, mehr Schmuck gibt es nicht. Rosenthal trägt Jeans, sein Auto ist Mittelklasse.
Mehr als realer Konsum scheint ihn die schiere Größe der Zahlen zu reizen. Er will einer sein, der irgendwann Milliarden bewegt. Als ein Mann, der sich großes Denken verordnet hat, interessieren ihn nur die großen Summen.
Als Rosenthal klar war, dass er die Genom-Daten nutzen wollte, um Medikamente gegen Krebstumoren zu entwickeln, begann er eine zweite Überlegung: »Was haben meine Kollegen übersehen, was unterscheidet mich von tausend anderen Forschern?« Er findet, dass ihn sehr viel unterscheidet, er findet, dass er einer der Besten ist. Von diesem Punkt aus denkt Rosenthal, und deshalb denkt er immer, dass er etwas tun kann, tun muss, was noch niemand getan hat.
Schering gründete 1997 in Berlin die Firma Metagen, machte Rosenthal zum Geschäftsführer, und der lässt seitdem in Krankenhäusern Krebstumoren sammeln und einfrieren. Seine Leute trennen das Bindegewebe mit Lasern ab und kleben die reinen Tumorzellen auf einen Chip. In einem Scanner wird untersucht, welche Gene in einem Tumor besonders aktiv sind. Diese Gene sollen dann von neuen Medikamenten beruhigt werden, damit der Tumor nicht mehr wächst.
Rosenthal weiß, welche Hoffnungen jeder Satz von ihm wecken kann. Er will nichts versprechen, aber er muss viel versprechen, um seine Geldgeber bei Laune zu halten. In spätestens zehn Jahren, sagt er, sollen die neuen Medikamente verfügbar sein und die Heilchancen von Krebs stark verbessern.
Schering hat er inzwischen davon überzeugt, eine Risikokapitalfirma an Metagen zu beteiligen. Der Pharmakonzern (Umsatz: rund neun Milliarden Mark) ist ihm zu klein geworden für seine Pläne, zähle nicht einmal zu den zehn größten der Welt.
Allerdings hat Rosenthal im Internet sehen müssen, dass eine amerikanische Firma das Gleiche tut wie Metagen. Das störe ihn nicht, sagt er. Im Gegenteil, er sehe seine Idee bestätigt. Nun müsse seine Firma zeigen, wie »kompetitiv« sie sei. Rosenthal mag Wettläufe. Sein Leben ist eine Geschichte von Wettläufen.
Geboren in Bad Saarow, aufgewachsen in Ost-Berlin, der Vater ein Virologe, der sich vor allem mit Vererbung befasst, die Mutter eine Medizinerin, die als »Mutter der Genforschung« in der DDR gilt. Es gibt keinen Fernseher zu Hause, stattdessen ausführliche Tischgespräche, Musik, Literatur, Genetik.
Der junge Rosenthal ist eigenwillig, unermüdlich. »Ich habe mich in viele Sachen verbissen, manche machen ja ab einer bestimmten Ebene Schluss, ich nicht.« Er ist ein sehr guter Schüler, ein sehr guter Torwart, ein schlechter Klavierspieler. Er studiert Chemie, weil er nicht das Gleiche machen will wie die Eltern. »Ich wusste bald, dass ich besser war als meine Professoren. Vor allem fehlte ihnen die internationale Orientierung. Wenn die mir gesagt hätten, was ich zu tun hätte, hätte ich das witzig gefunden.«
Am Ende macht er doch das Gleiche wie seine Mutter, wird Genforscher. Da weiß er längst, dass die DDR zu klein ist für einen wie ihn, der keine Grenzen akzeptieren will. Nicht einmal die Mauer kann ihn aufhalten. Er »will weltweit publizieren«, er schickt einen wissenschaftlichen Artikel ohne Genehmigung ins westliche Ausland. Er erfindet eine schnellere Methode, DNS zu sequenzieren, und verkauft die Lizenz nach England.
Ende der achtziger Jahre sind in aller Welt Wissenschaftler damit befasst, Krankheitsgene zu finden und zu entschlüsseln. Nur die Ersten bei diesen Jagden kommen zu Ruhm. Rosenthal jagt mit, will das Gen für Duchenne-Muskeldystrophie sequenzieren. Aber seine Gegner in Harvard sind schneller. »Wir haben das um ein paar Wochen verpasst«, sagt er, »das wäre ein Knüller gewesen.«
Wie soll er auch siegen können, wenn es ständig an Materialien mangelt? Er muss raus aus der DDR und bekommt 1989 die Erlaubnis, für drei Jahre nach Großbritannien, an die Universität von Cambridge, zu gehen. Dort entscheidet er sich, nicht zurückzukehren. Aber bevor er das verkünden kann, löst sich die DDR auf.
In Cambridge hat er alles, was er braucht, um das zu werden, was er von sich erwartet: ein Sieger. Er beginnt die Jagd nach dem Gen, das den erblichen Wasserkopf auslöst. Er lächelt fein und sagt: »1991 ist es mir geglückt, dieses Gen als Erster zu entdecken und zu entschlüsseln.« Seine Konkurrenten habe das irre geärgert.
1993 wird er Professor in Jena und baut dort eine Abteilung für Genom-Forschung auf. Ein paar Jahre später tritt er mit 80 Leuten an, seinen Beitrag zur Entschlüsselung der DNS zu leisten.
Zunächst sind 20 akademische Institute in aller Welt daran beteiligt. Sie teilen die 22 Chromosomen und die zwei Geschlechtschromosomen der DNS untereinander auf. Rosenthal übernimmt die Chromosomen 21 und 8.
Nun beginnen gleich mehrere Wettläufe. Rosenthal konkurriert gegen alle anderen Institute, weil es darum geht, wer sein Chromosom am schnellsten vorstellen kann. Er konkurriert besonders gegen die Japaner und ein Berliner Institut, die ebenfalls am Chromosom 21 arbeiten.
Von 1999 an verschmelzen diese Wettläufe mit einem weiteren. Der kommerziell orientierte Genom-Forscher Craig Venter findet ein Verfahren, mit dem er die DNS besonders schnell entschlüsseln kann. Er rast los, um den Ruhm des Siegers einzuheimsen. Die anderen rasen hinterher.
Intellektuell gelangweilt, ist Rosenthal ansonsten äußerst angespannt. Er schläft kaum noch, er treibt sich und andere zu größter Eile an, guckt ständig im Internet, wo stehen wir, wo stehen die Kollegen. Er ist Jäger und Gejagter.
Zum Drama wird die Jagd in den Tagen und Nächten, bevor der Genplan des Chromosom 21 vorgestellt werden soll. Rosenthal sitzt am Laptop und schreibt den Bericht mit den Ergebnissen. Er hat den Eindruck, dass die Japaner einen Teil ihrer Daten zurückhalten, um sich einen Vorsprung zu verschaffen. Dann kriegt er Streit mit einer Kollegin des Berliner Instituts. Er will das nicht ausführlich erzählen, aber es wird klar, dass es um Autorenschaft geht. Wer tritt wie deutlich im Abschlussbericht auf? An wen wird sich die Nachwelt erinnern?
Der Schlussspurt, der Streit eskaliert. Im Licht der Schreibtischlampe sitzt Rosenthal am Laptop, tippt und tippt. Er ist todmüde, aber er will diesen Platz niemandem überlassen. Wer schreibt, hat die letzte Entscheidung über die Inhalte des Berichts. Es wird geschrien, geweint. Die Stunden, bevor die Menschheit von einem großen Schritt erfährt, verrauschen in einem Tumult der Kleinlichkeit.
»Das Chromosom 21 ist das mit der höchsten Genauigkeit sequenzierte Chromosom«, sagt Rosenthal. Er war als Zweiter fertig, sein Institut hat insgesamt den neuntgrößten Anteil an der Entschlüsselung des Humangenoms geleistet. Er ist mit solchen Ranglisten schnell zur Hand, wie ein Athlet, der so seine Leistungskraft dokumentiert.
Rosenthal bleibt stets ausdruckslos, wenn er erzählt. Es gibt eine Schere zwischen dem, was er sagt und wie er es sagt. Zum Beispiel sagt er: »Ich gehöre zu dem Dutzend Leute, die das gemacht haben, darauf bin ich stolz.« Aber er wirkt nicht stolz, er ist ein Meister darin, sich beiläufig bedeutungsvoll zu präsentieren.
Er braucht keine Fragen, er erzählt immer weiter, und er weiß, welche Fragen sich stellen. »Die Wissenschaft ist ein über mehrere Jahrzehnte dauernder Marathonlauf«, sagt er, »oft kompetieren viele Forscher, und nur wenige schaffen es, nur wenige haben einen Return. Tausende von Wissenschaftlern werden verbraucht. Das ist eine knallharte Selektion. Du hast ein paar Jahre nichts publiziert, und schon sagen die Kollegen, der ist ausgebrannt.«
Viele forschten zehn und mehr Jahre an einem Problem, und dann komme ein anderer und veröffentliche als Erster. »Da werden mitunter ganze Karrieren zerstört.« Die Veröffentlichung in einer angesehenen Zeitschrift wie »Nature« bedeutet alles, und veröffentlicht wird nur das Neue.
»Hätte ich irgendwann einhalten sollen«, fragt er unvermittelt. »Was hätte ein Moratorium gebracht?« Er überlegt einen Moment. »Dann hätten andere das Genom entschlüsselt.«
Öffentlichkeit ist gerade für Forscher die größte Belohnung. Eben weil sie über Jahre in der geschlossenen Laborwelt hocken, tun sie viel, manche vielleicht alles, um eines Tages ans Licht treten zu können.
Auch Goethes Faust wollte raus aus der beengten Welt der Wissenschaft, hinein ins Leben, auf der Jagd nach neuen Erkenntnissen. Dafür schloss er einen Pakt mit dem Teufel. Hat Rosenthal den »Faust« gelesen? »Ja«, sagt er, »aber ich habe keinen Pakt mit dem Teufel geschlossen.«
Manchmal hat er schlaflose Nächte. Dann grübelt er, was wohl seine Kinder und Enkel eines Tages über ihn sagen werden. Sie wissen dann schon mehr über die Folgen der Genforschung, und ihr Vorfahr war einer des Dutzends, das die Grundlagen für das alles geschaffen hat.
Werden sie sich seiner schämen? André Rosenthal sieht die Gefahren. Gentherapien nur für Reiche, Manipulationen in der Keimbahn, um bestimmte Eigenschaften zu züchten - das ist auch für ihn ein Horror.
Dagegen steht die Hoffnung auf den Sieg über Krebs und ande-re tödliche Krankheiten. Und Rosenthal ist Optimist. »Wir werden den Missbrauch nie ganz verhindern können, aber wir können Grenzen setzen«, sagt er. Im Moment sieht er die Bedrohung eher im Pessimismus der anderen. PID, Forschung an embryonalen Stammzellen, um eines Tages Ersatzorgane züchten zu können, das soll es auch in Deutschland geben, »damit wir nicht zurückfallen ins Mittelalter«.
Es fällt ihm schwer zu akzeptieren, dass manche Politiker hier schon Einhalt fordern. Er ist gegen eine Abstimmung im Bundestag, weil er mit einem ungünstigen Ergebnis rechnet. Es ist das alte DDR-Gefühl, dass ihn Leute, die nicht so groß denken können wie er, hinter eine Mauer sperren. Abermals kommt ihm sein Heimatland zu eng vor, zu klein.
Auch aus einem anderen Grund tut er sich schwer mit der Bundesrepublik. »Ich bin kein Deutscher«, sagt Rosenthal, der einen jüdischen Großvater hat und sich mehr und mehr als Jude fühlt, obwohl er es nach der jüdischen Glaubenslehre nicht ist. Es ist ihm wichtig, eine kleine Rundfahrt durch das alte jüdische Viertel in Berlin zu machen. Er zeigt den Ort, wo Juden vor ihrem Abtransport in den Tod versammelt wurden. Er wohnt ganz in der Nähe, und manchmal ist das schwer erträglich für ihn.
Für Rosenthal ist sein Leben in Deutschland eine Art Experiment. Kann er es im Land der Täter aushalten? Er findet, dass die Deutschen ihrem braunen Erbe gegenüber ignoranter werden.
Nichts verletzt ihn mehr, als wenn jemand das Wort Selektion in Zusammenhang mit der PID nennt, weil dabei Embryonen mit Genschäden aussortiert werden. Seinem Großvater und seinem Vater hätte die Selektion an der Rampe von Auschwitz gedroht. »Das mit der PID zu vergleichen ist eine schwere Verharmlosung des Holocaust«, sagt Rosenthal.
Es sei für ihn ein besonders seltsames Gefühl, nun selbst manchmal als »Ungeheuer« angesehen zu werden, weil er an Genen forscht. Er sagt, dass er auch deshalb öffentlich auftrete, um zu zeigen, dass er kein Ungeheuer ist.
In Hamburg, bei seinem Vortrag, schafft er das schnell, weil seine Stimme so weich und ruhig ist. Er hat eine nette, offene Art. Aber er schafft es kaum, zehn Sätze zu sagen, ohne sich zu loben.
»Ich finde, Sie sind ziemlich narzisstisch zur Gentechnik eingestellt«, sagt ihm ein junger Zuhörer. Doch Rosenthal zeigt sich auch nachdenklich und spricht von seinen Sorgen. Am Ende hat er jedoch immer eine frohe Botschaft. Der Sieg gegen viele Krankheiten ist möglich, Grenzen gegen das Böse werden gesetzt und akzeptiert.
Dieser Optimismus, dieses Vertrauen in die guten Kräfte des Neuen verschaffen ihm einen großen Vorsprung gegenüber seinen Kritikern. Auf dem Hamburger Podium sitzt er mit der Molekularbiologin Regine Kollek, die Mitglied des Nationalen Ethikrats ist. Gegenüber Rosenthals Visionen wirkt ihre Skepsis blass und nörglerisch. »Manche Hoffnung scheint mir doch sehr spekulativ«, sagt sie mit einer Unlust, als sehe auch sie wenig Chancen, den Winter dauerhaft gegen den Frühling zu verteidigen.
Beim Empfang danach weiß Rosenthal ehrfürchtige Blicke auf sich, der Wissenschaftler als Star. Mancher guckt so sehr von unten, als suche er eine Spur vom Göttlichen in Rosenthal, als habe er hier einen neuen Herrn der Schöpfung vor sich.
Nach und nach trauen sich die Leute heran, konkurrieren um ein paar Worte mit Rosenthal, bis schließlich Hans-Jochen Jaschke an der Reihe ist, der Weihbischof von Hamburg. Es wäre die Chance für eine der wichtigsten und ältesten Diskussionen der Menschheit: Was erlöst uns, der Glaube oder die Wissenschaft?
Jaschke ist freundlich, vorsichtig. Er hat Fragen. »Der liebe Gott kommt mit all dem zurecht«, sagt er, »aber was ist mit uns? Können wir es verkraften, wenn man die PID erlaubt und das Leben nicht von Anfang an unantastbar ist?« Sein ganzes Gehabe ist defensiv, als könne man die christlichen Argumente, die 2000 Jahre alt sind, nicht mehr den Strapazen eines Angriffs aussetzen.
Rosenthal dagegen zeigt sich von seiner arroganten Seite. Von oben herab wirft er Jaschke »Scholastik« vor und meint theorieselige Verknöcherung. Er ist messianisch, offensiv, auch er hat ein Heilsversprechen, aber ein modernes, nicht für die Seele, für den Körper. Damit ist er im Vorteil, weil wir in einer Körperwelt leben, nicht mehr in einer Seelenwelt.
Das Gespräch ist bald beendet, weil sich ein Mann, der Rosenthal unbedingt seine Bewunderung mitteilen muss, dessen Aufmerksamkeit erdrängelt.
Zwei Stehtische entfernt steht Rosenthals Vater und hat ein Auge auf den Sohn. Wie ein Schlachtenbummler wirkt er mit seiner grünen Baseballkappe. Als sein Sohn im Hörsaal von einem Zuhörer kritisiert wurde, stand Hans-Alfred Rosenthal auf und hielt eine kleine Rede zur Verteidigung. Seine Stimme ist nicht weich, manchmal klingt Eisen an.
Jetzt sitzt er in seinem Wohnzimmer in Berlin und erinnert sich mit Behagen an den kleinen André. Er erwähnt zwei Goldmedaillen für herausragende Leistungen in der Schule, später eine Urkunde vom Minister. Der Stolz eines Vaters.
»Finden Sie, dass er mir ähnlich sieht?«, fragt Hans-Alfred Rosenthal.
»Die Atmosphäre zu Hause war natürlich intellektuell«, erzählt er. »Meine Frau und ich haben vor den Kindern um Erkenntnis gestritten, politisch, wissenschaftlich.« Er sagt auch, dass er »nicht so zurückhaltend damit war, seinen beiden Söhnen die Hosen strammzuziehen«. Und man kann sich vorstellen, wie streng er seine Jungs bewertet hat, weil er es immer noch tut. »Andrés Klavierspiel ist völlig unausgereift, völlig ungenügend.« Seinen älteren Sohn erwähnt er nur kurz. Er ist Bauklempner.
Im Flur hängt ein Bild der Mutter, die 1988 an Krebs gestorben ist. Sie sitzt auf einem Stuhl, zurückgelehnt, die Arme weit ausgefahren. Sie guckt energisch, entschlossen. Hans-Alfred Rosenthal erzählt, dass seine Frau nach jahrelanger Arbeit kurz davor war, mittels genetischer Verfahren Humaninsulin aus Bakterien zu isolieren, als Erste in der Welt, ein Durchbruch für Zuckerkranke. Dann verweigerte man ihr die Mittel. Tagelang habe sie geweint.
Genau das ist der Alptraum ihres jüngeren Sohnes und damit seine größte Antriebskraft: einen Wettlauf nicht gewinnen zu können.
Auf die Frage, ob er ehrgeizig sei, antwortet André Rosenthal mit Nein. Er steht auf und holt sich ein Glas Wasser. Als er zurückkommt in sein Büro, sagt er: »Wissen Sie, ich war ehrgeizig, als ich sehr jung war.«
Seine Eltern hätten ihn sehr gefordert, »und ich habe mich dem nicht entzogen«. Die Messlatte sei immer höher gelegt worden, es war sein erster Wettbewerb. »Ich wollte zeigen, dass ich das auch kann, ich habe stark mit ihnen kompetiert.« Er hat gewonnen. »Ich bin ein Wissenschaftler, der weit über das hinausgeht, was meine Eltern geleistet haben, leisten konnten«, sagt er mit seiner weichen Stimme.
Ob er manchmal an den Nobelpreis denkt? »Nein«, sagt er.
Als er über sein Studium spricht, fällt der Satz: »Im Grunde genommen konnte mich niemand stoppen.« Das gilt immer noch. Es gibt einen Nationalen Ethikrat, es gibt politische Debatten, und es gibt den Marathon-Mann André Rosenthal, der einst zu Hause einen Startschuss hörte. Seitdem rennt er und rennt. Niemand kann ihn stoppen. In ihrem Wettlauf werden die Genforscher ständig neue Fakten schaffen, und da können Politiker noch so bekümmert mit schwarzen Fähnchen winken, das Rennen geht weiter, wenn nicht in Deutschland, dann anderswo.
Und es ist gut, dass André Rosenthal so ehrgeizig war und ist. Denn er rennt mit unseren Hoffnungen im Gepäck. Um den Krebs zu besiegen, braucht es den Willen eines Marathonläufers.
Und es ist gefährlich, dass André Rosenthal so ehrgeizig war und ist. Seine Arbeit vermehrt das Wissen um den Bauplan des Menschen. Niemand kann garantieren, dass wir verantwortlich damit umgehen werden.
Es gibt ein Paradox in Rosenthals Denken. Der Mann, der sich nicht stoppen lässt, vertraut darauf, dass andere Grenzen akzeptieren. Dabei könnte ihm sein eigener Lebensweg zeigen, wie es weitergeht.
Irgendwann werden sich Wissenschaftler, die weniger Skrupel haben als Rosenthal, Ruhm oder Geld davon versprechen, als erste Manipulationen an der Keimbahn vorzunehmen. Ein Wettlauf wird beginnen, und eines Tages präsentiert der Sieger sein Ergebnis. Dann ist die Menschenzüchtung in der Welt, und nichts wird sie verschwinden lassen.
Bis dahin ist Rosenthal längst kein Genforscher mehr. Denn überraschenderweise taucht doch noch jemand auf, der ihn stoppen könnte: er selbst. In fünf, zehn Jahren, sagt er, wolle er aussteigen aus diesem Rennen und Musik studieren. Irgendwie kann er das mit dem lausigen Klavierspiel nicht auf sich sitzen lassen.
Sein Vater glaubt allerdings nicht, dass ihm ernst damit ist. »Wissen Sie, Forschung auf diesem Niveau, das ist wie ein Wurm, der immer weiterfrisst. Da geht es um Ehrgeiz, um eine Art Selbstbefriedigung. Er wird gar nicht aufhören können.«