Paris am Tag nach dem Brand "Sie schwankt, aber sie geht nicht unter"
Es sind nur zwei Ampeln bis zur Seine-Brücke, von der aus sich die beschädigte Kathedrale Notre-Dame betrachten lässt. Doch die junge Friseurin Marion Lecomte bleibt lieber in ihrem Bio-Friseurladen auf dem Boulevard Henry IV. im vierten Pariser Bezirk, wo sie ihrer Kundin Claire die Haare färbt. "Ich will nicht hinschauen, sonst bekomme ich einen zweiten Schock", sagt Marion. "Wer weiß, ob die Mauern jetzt halten?"
Sie wolle lieber abwarten und erst in vierzehn Tagen auf die Brücke gehen, sagt Marion und wendet sich Claires Locken zu. Nach der Arbeit, so hat sie sich vorgenommen, will sie nur schnell in die U-Bahn und nach Hause. Kein Blick auf Notre-Dame!
Andere, so scheint es, wollen den Blick auf die unbeschädigte Kathedrale bewahren, auf Papier. Am rechten Seine-Ufer flussaufwärts von Notre-Dame hat der Buchhändler Sébastien Leclercq vor seinem über 70 Jahre alten Buchladen viele Postkartenständer aufgestellt. Den ganzen Tag greifen sich die Leute Karten von Notre-Dame. "Sonst kaufen die Karten nur Touristen, aber heute nehmen auch viele Pariser sie mit. Sie kaufen sie, weil sie Angst haben, Notre-Dame zu verlieren", sagt Leclercq.

Ihm selbst geht es anders. Seine Angst ist verschwunden. Noch bevor er seinen Laden öffnete, ist er die ganze Runde um die Ile de la Cité gegangen, die Seine-Insel, auf der Notre-Dame steht. Er schaute sich die brandgeschädigte Kathedrale von allen Seiten an, so gut es ging, entlang an den vielen Polizei- und Feuerwehrsperren. Leclercqs Fazit: "Notre-Dame hat seine Gestalt eines großen Dampfers bewahrt. Wo sie nun kein Dach mehr hat, sieht es von Weitem wie eine Terrasse aus. Auch die Fensterrosen sind erhalten. Gestern Abend war ich in Panik. Heute nicht mehr."
An diesem Tag verkauft sich alles, was in Leclercqs Buchladen über Notre-Dame vorhanden ist: Allen voran den Klassiker des großen französischen Revolutionsschriftstellers Victor Hugo "Der Glöckner von Notre-Dame". Leclercqs wenige Taschenbuchexemplare waren schon am Morgen vergriffen. Sofort bestellte er nach. "Hoffentlich kommen die Nachlieferungen auch", sagt er.
Die Geschichte vom buckligen Glöckner Quasimodo und der schönen Esmeralda ist plötzlich wieder in aller Munde. Disney verfilmte sie für Kinder, Anthony Quinn als Glöckner und Gina Lollobrigida als Esmeralda spielten eine berühmte französische Filmversion. Über beide Filme spricht Leclercq mit seinen alten und jungen Kunden. Fast jeder kennt sie.
Video: Erste Aufnahmen aus dem Inneren der zerstörten Kathedrale
Einer Mutter fällt Quinns Name nicht mehr ein, aber sie strahlt, als Leclercq ihn nennt. Ihr Sohn erzählt stolz von der Disney-Version - als könnten Mutter und Sohn damit die Horrorbilder der Brandkatastrophe vom Vorabend verdrängen. Leclercq aber bestärkt sie und andere Kunden darin, über Notre-Dame zu sprechen. Es scheint allen Beteiligten am Tag nach dem Inferno gut zu tun.
Leclercq zeigt ein Pariser Wappen auf seinem Ladenbildschirm: "Fluctuat nec mergitur" steht darauf als Wappenspruch: "Sie schwankt, aber geht nicht unter." Für den Buchhändler passt der Spruch an diesem Tag besser denn je auf Paris und die alte Kathedrale, die ein Wahrzeichen der Stadt ist.
Und draußen? Herrscht ein Betrieb wie zur besten Touristensaison. Mitten auf der Ile Saint-Louis, einer zweiten kleinen Seine-Insel neben Notre-Dame, steht ein Feuerwehrmann in voller Montur auf einer Straßenkreuzung, als wäre er ein Verkehrspolizist. Autos fahren hier nicht, aber alle Menschen kommen auf ihn zu, schütteln ihm die Hand und stellen Fragen. Er antwortet bereitwillig.

Warum man keine Löschflugzeuge einsetzen konnte? "Weil man das Wasser - bumm! - von oben auf die Kirche geknallt hätte und alles kaputtgegangen wäre", antwortet er. Warum man keine Pumpenboote von der Seine eingesetzt hätte? "Ich weiß gar nicht, dass es solche Boote gibt", gibt der Feuerwehrmann zurück. Alle bewundern ihn, und er genießt das sichtlich.
So kommt Paris nach dem Schock des Kathedralen-Infernos langsam wieder zu sich. Alle Bewohner auf ihre Art. "Natürlich bauen wir Notre-Dame wieder auf. Wie haben auch Reims wieder aufgebaut!" sagt der 66-jährige Geschichtslehrer Francois Hugbrau aus der Pariser Vorstadt Saint-Denis, als er merkt, dass vor ihm ein deutscher Journalist steht.
Die Kathedrale in Reims wurde einst von deutschen Geschossen im Ersten Weltkrieg zerstört. Hugbrau aber macht die Anspielung auf Reims mit einem schelmischen Lächeln. Es zeigt: Paris lebt weiter.