Automatische Handyortung im Notfall »Mit dem Notruf wird der Standort des Anrufers an uns übermittelt«

Bei einem Notruf wird das Handy in vielen Fällen automatisch geortet. Experte Henning Schmidtpott erklärt, was das bringt – und warum man im Notfall dennoch unbedingt sagen soll, wo man ist.
Ein Interview von Sophia Ahrens
Die integrierte Leitstelle in Freiburg: Auf drei Meter genau

Die integrierte Leitstelle in Freiburg: Auf drei Meter genau

Foto: Patrick Seeger / picture alliance / dpa

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SPIEGEL: Schnelle Hilfe ist bei Notrufen das oberste Gebot. Wovon hängt es ab, ob das klappt?

Henning Schmidtpott: Wenn jemand den Notruf 112 wählt, ist die erste Frage: Wo ist der Notfallort? In den meisten Fällen ist der Ort den Anrufern bekannt. Aber zwei Drittel der Anrufe kommen inzwischen von Handys. Da kann es passieren, dass der Anrufer nicht genau oder im Extremfall überhaupt nicht weiß, wo er ist. Auch in der Stadt kommt das vor: Der Anrufer sagt zum Beispiel, er ist am Hauptbahnhof. Aber ist er am Nord- oder Südausgang? Das kostet wertvolle Zeit.

SPIEGEL: Die Technik »Advanced Mobile Location« (AML) wird inzwischen in fast allen Leitstellen verwendet. Wie soll dieses System helfen?

Schmidtpott: Mit dem Notruf wird der Standort des Anrufers an uns übermittelt, teilweise auf einen Drei-Meter-Radius genau. Jemand hat mal gemeint, das sei die größte Revolution im Notruf seit Einführung der Notrufsäulen.

SPIEGEL: Wie funktioniert das System?

Schmidtpott: Wenn jemand den Notruf 112 wählt, schalten sich sämtliche Ortungsdienste am Handy an – auch wenn sie vorher deaktiviert waren. Wer sie also aus Datenschutzgründen nicht immer aktivieren möchte, kann das ruhigen Gewissens tun. Im Notfall hat man dadurch keinen Nachteil. Die Koordinaten werden über SMS oder das mobile Internet an die Leitstelle gesendet, alles kostenfrei. AML ist standardmäßig aktiviert. Das funktioniert komplett im Hintergrund, der Anrufer bekommt davon nichts mit. Sobald das Notrufgespräch beendet ist, schalten sich die Dienste wieder aus.

SPIEGEL: Wenn der Standort automatisch übermittelt wird: Kann der Anrufer dann auf eine Ortsangabe verzichten, um Zeit zu sparen?

Schmidtpott: Auf keinen Fall. Auch eine zuverlässige Technik kann mal Probleme machen, und beim Notruf könnte dies zu einer lebensbedrohlichen Verzögerung führen. Die Frage der Leitstelle nach dem Notfallort sollte – sofern möglich – also auch immer am Telefon beantwortet werden.

»Advanced Mobile Location«

Der Europäische Kodex für die elektronische Kommunikation wurde 2018 verabschiedet und sieht unter anderem vor, dass beim Anruf einer Notfallnummer genauere Informationen über den Standort des Anrufers oder der Anruferin zur Verfügung stehen müssen. Seit 2019 wird in Deutschland »Advanced Mobile Location«, ein System zur Positionsbestimmung in Notfällen, eingesetzt. Die Ortungsdaten eines Anrufers werden damit in vielen Fällen automatisch an die zuständige Leitstelle übermittelt.

SPIEGEL: Können Sie Beispiele nennen, in denen das System geholfen hat?

Schmidtpott: Da gibt es den Waldarbeiter, der sich mit der Kettensäge ins Bein gesägt hat und dank AML in 15 Minuten gefunden wurde. Ein anderes Mal rief ein Kind mit dem Handy an, konnte die Adresse nicht nennen, und die Mutter lag bewusstlos am Boden. Und manchmal gibt es Verständigungsprobleme am Telefon. Nicht unbedingt wegen einer Fremdsprache, da genügt auch schon ein sehr stark ausgeprägter Dialekt.

SPIEGEL: Was passiert mit den Daten, die über das System in der Leitstelle eingehen?

Schmidtpott: Die Positionsdaten werden nur verschlüsselt gespeichert und nach einer Stunde wieder gelöscht.

SPIEGEL: Funktioniert das mit jedem Handy?

Schmidtpott: Es braucht mindestens ein Smartphone mit der Android-Version 4, die heutzutage fast jedes Android-Gerät hat. Wer ein Gerät von Apple besitzt, braucht mindestens IOS 11.3. Es gibt in Deutschland ein paar ältere Apple-Geräte, bei denen es nicht funktioniert.

SPIEGEL: Ein Notruf kann auch abgesetzt werden, wenn das Handy keinen Empfang anzeigt. Gilt das auch für die Übermittlung der Standorte?

Schmidtpott: Leider nicht, für AML muss der Anrufer im Empfangsbereich seines eigenen Anbieters sein. Er oder sie kann den Notruf zwar ohne Empfang absetzen, aber eine Ortung funktioniert dann nicht. In diesem Fall wissen wir, wie früher, nur die Funkzelle, aus der ein Anruf kommt. Bei uns im Schwarzwald kann eine Funkzelle aber einen Unsicherheitsradius von 25 Kilometern haben. Im städtischen Bereich ist der Radius kleiner, aber auch ein Kilometer kann dort 30 Straßen und zehntausend Häuser bedeuten.

SPIEGEL: Gibt es weitere Fälle, in denen die genaue Ortung nicht funktioniert?

Schmidtpott: Bei Roaming-Teilnehmern ist es problematisch. Wenn etwa ein ausländischer Urlauber in Deutschland den Notruf wählt, können die Koordinaten nur über mobile Daten bei Android-Geräten übermittelt werden – über iPhone und SMS funktioniert AML dann nicht. Und einige kleine Anbieter, die das Netz der großen Betreiber nur mitnutzen, haben einen eigenen SMS-Service und AML nicht aktiviert. Kunden können das im Zweifelsfall bei ihrem Anbieter erfragen.

SPIEGEL: Benutzen alle Leitstellen »Advanced Mobile Location«?

Schmidtpott: Circa 230 Leitstellen in Deutschland haben Zugang zu den AML-Daten. Die wenigen Stellen, die noch nicht dabei sind, sind Spezialfälle mit technischen oder organisatorischen Schwierigkeiten. Sie haben aber alle angekündigt, so bald wie möglich mitzumachen.

SPIEGEL: Das Ortungssystem funktioniert bei einem Anruf unter der Nummer 112. Warum nicht bei der 110?

Schmidtpott: Das System ist auf jeden Fall auch unter der 110 sinnvoll. Die Polizei führt es gerade ebenfalls ein, noch ist es nicht so weit.

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