NSU-Prozess Die geschredderten Akten von "Treppe", "Tusche" und "Tarif"
Der Mann mit dem Tarnnamen Lothar Lingen arbeitete gründlich: Am 10. November 2011 ordnete der damalige Referatsleiter der Abteilung Rechtsextremismus im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) an, mehrere Akten zu schreddern.
Die Umsetzung folgte bereits am 11. November: Im Reißwolf landeten Akten von V-Männern aus der rechtsextremen Szene mit Decknamen wie "Treppe", "Tusche", "Tinte", "Tacho" oder "Tarif". Die Vernichtungsaktion erfolgte damit drei Tage nachdem sich die mutmaßliche Rechtsterroristin Beate Zschäpe der Polizei gestellt hatte. Bei den V-Leuten handelte es sich um Personen, die überwiegend Mitglieder des "Thüringer Heimatschutzes" waren - einer neonazistischen Organisation, in der auch Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt aktiv waren.
Antrag von 30 Vertretern der Nebenklage
Mit der Schredderaktion, deretwegen BfV-Präsident Heinz Fromm im Juli 2012 seinen Posten räumte, hat sich in der Vergangenheit bereits der Untersuchungsausschuss des Bundestags zum Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) beschäftigt. An diesem Montag wurde sie auch Thema im NSU-Prozess vor dem Münchner Oberlandesgericht: 30 Vertreter der Nebenklage haben unter anderem beantragt, den damals zuständigen Referatsleiter des Bundesverfassungsschutzes zu laden.
Außerdem forderten sie, 171 Deckblattmeldungen des BfV heranzuziehen, die auf Berichte des früheren V-Mannes Michael von Dolsperg (Deckname "Tarif") zurückgehen - diese Deckblattmeldungen konnten rekonstruiert werden, weil in anderen BfV-Abteilungen noch entsprechende Unterlagen vorhanden waren.
Dolsperg hatte einst gegenüber dem SPIEGEL berichtet, dass er kurz vor dem Abtauchen von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt im Jahr 1998 gebeten worden sei, das Trio zu verstecken. Er habe anschließend seinen V-Mann-Führer darüber informiert - der Verfassungsschutz habe ihm schließlich eine Absage erteilt, die drei zu verstecken. Das BfV hat Dolspergs Schilderungen bestritten.
Die Nebenklage-Vertreter wollen mit ihrem Antrag zur Aufklärung der Schredderaktion beitragen. Bislang habe in dieser Sache keine "umfassende parlamentarische Aufklärung" stattgefunden. So hätten die Obleute des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses des Bundestags einst "nur in geringem Umfang Akteneinsicht in die 'rekonstruierten' Akten und gar keine Einsicht in aktenkundige Vorgänge um die Vernichtung" erhalten, heißt es in ihrem Antrag. Auch der Thüringische Untersuchungsausschuss habe keine Akteneinsicht bekommen.
Verdacht der Vertuschung
Dem Antrag der Anwälte zufolge spricht "alles dafür, dass sich in den Akten für das BfV kritische Informationen befanden, die im Zusammenhang mit dem NSU-Komplex standen". Die Anwälte weisen unter anderem auf Auffälligkeiten bei der Schredderaktion hin: So habe sich die Bürosachbearbeiterin N., die von Lingen mit der Vernichtung beauftragt wurde, zunächst geweigert, weil sie den Vorgang für ungewöhnlich hielt. Lingen habe außerdem versucht, gegenüber Vorgesetzten den Zeitpunkt des Schredderns zu verschleiern: So habe er etwa in einem Sprechzettel für den damaligen Präsidenten Fromm behauptet, dass die Akten bereits im Januar 2011 vernichtet worden seien, schreiben die Anwälte unter Berufung auf den Bericht des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestags.
Der Verdacht der Nebenklage-Vertreter gegen das BfV und weitere Behörden wiegt schwer: Es gebe wiederkehrende Verhaltensmuster von Strafverfolgungsbehörden und Nachrichtendiensten, "die darauf schließen lassen, dass diese Behörden gezielt außerhalb des ihnen gesetzten rechtlichen Rahmens operiert haben, um das Wissen über oder die Beteiligung an Verbrechen zu vertuschen".
Allerdings hatte das Bundesinnenministerium nach der Schredderaktion im BfV einen Sonderermittler eingesetzt, der keine Belege für eine Vertuschungsaktion fand. Vielmehr seien die Aktenvernichtungen in dem Glauben angeordnet worden, vorgeschriebenen Löschfristen nachzukommen. Der Sonderermittler sei nicht unabhängig gewesen, so die Nebenklage-Vertreter - schließlich habe es sich um einen Beamten des Innenministeriums gehandelt.
Der 18-seitige Antrag der Nebenklage-Vertreter muss jetzt vom Gericht geprüft werden. Eine Entscheidung bis zur Sommerpause, die am Mittwoch beginnt, gilt als unwahrscheinlich.