Einkommen von Pflegekindern Der Staat langt zu

Junge Frau beim Kassieren (Symbolbild)
Foto: imago/ Science Photo LibrarySina Brandow* ist wütend. Die 17-Jährige aus Hamburg versucht, Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen. Im vergangenen Jahr hat sie eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau begonnen. Doch von ihrem Gehalt bleibt Brandow nur ein Bruchteil, weil sie ein Pflegekind ist - eines von Zehntausenden in Deutschland.
In Hamburg bekommen Pflegeeltern monatlich zwischen 814 und 968 Euro vom Jugendamt, je nach Alter des Pflegekindes. Das Geld soll Unterhalt und Erziehungskosten abdecken: Miete, Essen, Kleidung, Schulsachen, Taschengeld, aber beispielsweise auch die Kosten für die Fahrt zum Elternabend.
Bei Pflegekindern, die Geld verdienen, holt sich der Staat etwas zurück und langt ordentlich zu. Im Sozialgesetzbuch VIII, Paragraf 94 , ist geregelt, wer wie viel bezahlen muss. Für Pflegekinder bedeutet das: Bis zu 75 Prozent ihres Einkommens müssen sie als sogenannten Kostenbeitrag ans Jugendamt zurückgeben.
Das betrifft nicht nur Pflegekinder - von ihnen gab es 2016 laut Statistischem Bundesamt etwa 90.000, aktuellere Zahlen gibt es nicht. Auch bei Jugendlichen, die in Heimen und ähnlichen Betreuungseinrichtungen leben, greift der Staat zu, wenn sie Geld verdienen. 2016 gab es 142.000 Heimkinder.
"So erzieht man weitere Sozialhilfeempfänger"
Warum dürfen die Jugendlichen ihr Geld nicht behalten? Die Jugendhilfe sei Teil der öffentlichen Fürsorge, sagt der Rechtswissenschaftler Reinhard Wiesner von der Freien Universität Berlin. Zunächst einmal bekomme jeder junge Mensch Unterstützung. "In einem zweiten Schritt wird dann aber geprüft, ob sie nicht finanziell etwas dazu beitragen können."
"Etwas dazu beitragen" bedeutete für Sina Brandow: Sie bekam vom Amt einen Bescheid, wonach ihr von 855 Euro brutto nur 214 Euro blieben. Sie fühlt sich ungerecht behandelt. "Nur weil meine Mama kein Geld hat und sich nicht um mich kümmern kann, muss ich jetzt mein Gehalt abgeben. Das ist unfair. Ich kann da doch nichts dafür", sagt die 17-Jährige.
Mit ihrer Kritik ist sie nicht allein. Der Soziologe und frühere Jugendhilfe-Abteilungsleiter der Hamburger Sozialbehörde Wolfgang Hammer plädiert für die Abschaffung der Regel. Mit dem Geld nehme man Pflegekindern die Möglichkeit, selbstständig zu werden, sagt Hammer.
Ist das sinnvoll bei Kindern, deren leibliche Eltern sie ablehnten, mit der Erziehung überfordert waren oder sie misshandelten?
"Man gibt den jungen Menschen das Gefühl, dass es sich nicht lohnt zu arbeiten"
Nein, meinen auch viele Pflegedienste. "Es handelt sich um eine reine Sparmaßnahme", sagt die Sozialpädagogin Kirsten Willruth. Sie arbeitet seit 15 Jahren als Pflegefamilienberaterin. Schon oft habe sie erlebt, dass Pflegekinder, die gern arbeiten würden, den Job wieder aufgeben, wenn sie erfahren, dass sie 75 Prozent ihres Einkommens abgeben müssen. "Man gibt den jungen Menschen das Gefühl, dass es sich nicht lohnt zu arbeiten. So erzieht man weitere Sozialhilfeempfänger", sagt sie. Außerdem sei der Ertrag für die Kommunen nach Abzug der Kosten für den Verwaltungsaufwand gering, sagt Hammer.
Der Staat hat auf die Kritik reagiert, ein wenig zumindest. Seit 2013 dürfen Pflegekinder einen größeren Teil ihres Einkommens behalten, wenn es aus einer ehrenamtlichen, sozialen oder kulturellen Erwerbstätigkeit stammt. Was dazu zählt, werde allerdings sehr unterschiedlich ausgelegt, sagt Wolfgang Hammer. Das Gesetz sei an der Stelle "diffus und interpretationsoffen". Für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen sei völlig unberechenbar, was sie wirklich abgeben müssen.
75 Prozent des Einkommens werden eingefordert, wenn kein ausführlich begründeter Widerspruch eingelegt wird. Sozialpädagogin Willruth erzählt, was das für die Pflegekinder bedeutet: "Es ist immer wieder der Finger in die Wunde. Du bist anders. Du bist schwierig." Dabei sei es die Idee einer Pflegefamilie, den Kindern die Möglichkeit zu geben, normal und gleichgestellt aufzuwachsen.
Das würde Sina Brandow auch gern. Gemeinsam mit ihren Pflegeeltern hat sie im September einen Antrag ausgefüllt und begründet, weshalb sie einen größeren Teil ihres Einkommens behalten möchte. Sie will Geld für den Führerschein sparen und Fahrten zur Arbeit bezahlen. Der Antrag wurde genehmigt. Brandow darf nun etwa 60 statt nur 25 Prozent ihres Einkommens behalten, 513 statt 214 Euro.
"Das Gesetz ist eigentlich vom Tisch"
Das Bundesfamilienministerium hält die aktuelle Ausnahmeregelung offenbar auch für unzureichend. Auch mit anderen Tätigkeiten, die nicht ehrenamtlich oder vergleichbar seien, würden junge Menschen lernen, Eigenverantwortung für sich und die eigene Zukunft zu übernehmen, sagt ein Sprecher auf Anfrage.
Im Kinder- und Jugendstärkungsgesetz sei zudem vorgesehen, dass Pflegekinder maximal noch die Hälfte ihres Einkommens abgeben müssen. Von kleineren Beträgen bis zu 150 Euro aus Schülerjobs oder Praktika will der Staat künftig komplett die Finger lassen.
Das Gesetz wurde im Juni 2017 vom Bundestag beschlossen. Der Bundesrat muss noch zustimmen. Dieser schiebe das Gesetz aber auf die lange Bank, sagt Rechtswissenschaftler Wiesner. "Das Gesetz ist eigentlich vom Tisch, weil es seit einem Jahr im Bundesrat hängt. Keiner rechnet mehr damit, dass es zur Abstimmung kommt."
Besonders bitter für Pflegekinder: Es hakt nicht an den Änderungen zum Paragrafen 94, sondern an anderen Stellen. Wiesner geht davon aus, dass der Bundestag einen neuen Gesetzentwurf verabschieden müsste, damit sich der Bundesrat noch einmal mit der Sache beschäftigt. Bis es so weit ist, dürfte Sina Brandow ihre Ausbildung schon beendet haben.
Im Video: Pflegekinder - Wunschkind auf Zeit
*Name geändert