Gejagt und vertrieben: Wie Süchtige auf den Philippinen überleben

Dieser Beitrag wurde am 22.09.2018 auf bento.de veröffentlicht.

Auf den Philippinen glauben viele, dass Rodrigo* und Jon* es verdient hätten, zu sterben. Jeden Tag mischen sich die Brüder mehrmals das aufputschende Shabu, Crystal Meth, mit dem Betäubungsmittel Nubain, und injizieren sich die Droge. "Das knallt richtig – es macht mich mindestens zwei Stunden high und fühlt sich gut an", sagt der 30-jährige Rodrigo. “Wenn ich keine Drogen bekomme, werde ich sofort schläfrig, ich könnte ohne nicht arbeiten. Ich muss es jeden Tag nehmen.”

Auf den Philippinen tobt ein brutaler Drogenkrieg, der die Brüder zu Gejagten macht. Seit Präsident Duterte vor zwei Jahren dazu aufgerufen hat, Dealer und Drogennutzer festzunehmen oder gleich zu töten, sind der philippinischen Bundespolizei zufolge mehr als 4500 Menschen getötet worden – angeblich, weil sie sich gegen die Verhaftung gewehrt haben. 

Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass Polizei und vermummte Killerkommandos mehr als 12.000 Menschen ermordet haben, vor allem in Armenvierteln. Ihre Leichen ließen sie wie Abfall auf der Straße liegen, zum Teil mit hingeschmierten Zetteln oder Parolen versehen – als Warnung an andere Drogennutzer. 

"Euer Bedenken sind Menschenrechte, meine sind Menschenleben", entgegnete Duterte seinen Kritikern. "Leben von Jugendlichen werden verschwendet und Familien werden zerstört." 

Viele Filipinos unterstützen den Drogenkrieg trotz der brutalen Gewalt: Einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes Pulse Asia zufolge halten 69 Prozent den Kampf gegen die Drogen für Dutertes größten Erfolg (CNN ). 

Der Präsident ist auch deswegen an die Macht gekommen, weil viele Filipinos sich einen Wandel erhofft haben: ein sauberes, sicheres Land, ohne Drogensucht, Korruption und Kriminalität. Drogennutzer gelten als Kriminelle, als Abschaum, angeblich verantwortlich für Vergewaltigung, Raub und andere Verbrechen.

Rodrigo hat immer wieder versucht aufzuhören – aber er schafft es nicht. Er und sein 28-jähriger Bruder Jon wuchsen bei ihrem Onkel auf, nachdem ihre Eltern, die selbst süchtig waren, sich getrennt hatten. Dort lagen die Drogen auf dem Wohnzimmertisch. 

Rodrigo erinnert sich: Er beobachtete, wie sein Onkel und dessen Kumpels kifften oder sich Shabu spritzten. Anschließend machten sie nach, was sie gesehen hatten, was Kinder eben so tun. Mit 12 Jahren die erste selbstgedrehte Zigarette, die dann doch ein Joint war. Es folgten Shabu, Crystal Meth

Ihr Onkel kontrollierte als Drogenboss das Viertel, in dem sie lebten. Er gab den Brüdern Drogen und Taschengeld, dafür warnten sie ihn vor Polizeipatrouillen und hielten Geschäftspartnern die Tür auf. "Die Droge ist meine Familie“, sagt Rodrigo. "Mein Bruder und ich waren uns selbst überlassen – ich brauchte etwas, zu dem ich gehören konnte." 

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Die Hafenstadt Cebu City ist bekannt für ihr Nachtleben, aber auch für eine Drogenszene, in der sich viele junge Leute Stoff spritzen. Studenten nehmen Drogen, um wachzubleiben, aber auch Taxi-Fahrer oder die Mitarbeiter von Callcentern oder IT-Dienstleistern, die als Lösch-Armeen für soziale Netzwerke wie Facebook arbeiten. (bento

Der Drogenkrieg treibt Abhängige in den Untergrund. Früher gab es ein Party-Viertel in Cebu, hier haben sie Musik gemacht, Drogen konsumiert, eine zeitlang sogar gelebt. "Disneyland" nannten sie den Ort. Doch das ist lang vorbei. Jetzt müssen sie sich verstecken.

Ihre Zuflucht: ein "Safe-Haus" in der heruntergekommenen Innenstadt von Cebu. Hier treffen sie Freunde, hier können sie offen über die Drogensucht sprechen – ohne Angst vor einer Verhaftung. "Jetzt bist du ein Krimineller als Drogennutzer und wenn dein Nachbar dich nicht mag, denunziert er dich", sagt Danilo. Auch er ist seit vielen Jahren drogenabhängig, hat als Student angefangen, Drogen zu nehmen

Danilo hat sich die Arme tätowieren lassen, damit man die vernarbten Einstichstellen nicht sieht. Er ist Mitgründer eines Netzwerkes, bei dem Abhängige anderen Drogennutzern helfen – die Arbeit ist so riskant, dass sie den Namen der Gruppe und ihre Identitäten geheim halten. 

Die Idee: Wenn der Staat die Abhängigen allein lässt und jagt, müssen sie sich selbst organisieren. In dem Zentrum bekommen Süchtige Infos und auch Hilfe beim Entzug – von Leuten, die wissen, wovon sie reden. "Selbst wir Drogennutzer wollen die Drogen stoppen, aber es ist nicht einfach – und Duterte macht es auf dem falschen Weg. Wir sind keine Kriminellen, sondern brauchen Hilfe", sagt Danilo. 

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Früher gab es in Cebu ein Pilotprojekt, Abhängige bekamen kostenlos Nadeln – doch nach einem halben Jahr war Schluss. Das Austeilen von Nadeln gilt heute als Unterstützung der Drogensucht – und das ist illegal. 

"Wir haben eine HIV- und Aids-Epidemie", warnt die Ärztin Ilya Tac-an, Leiterin der STD/Aids Detection Unit des Cebu City Health Department. "Die Zahl der Neuinfektionen unter den Nutzern, die Drogen injizieren, ist sehr hoch – und auch Partner von Drogenabhängigen, Mütter und Kinder sind betroffen."

Rodrigo und Jon verteilen im Namen des Netzwerks saubere Nadeln an andere Abhängige und klären über Gesundheitsrisiken auf – obwohl sie damit Gefahr laufen, selbst auf der Todesliste der Regierung zu landen. Es dauert inzwischen immer länger, die Süchtigen aufzuspüren. Und die Brüder müssen sie überzeugen, dass sie keine Spione der Regierung sind.

"Viele Leute fixen sich in der Straße, mit Freunden, und nutzen zu 90 Prozent gebrauchte Nadeln", sagt Jon. Seine eigene Geschichte soll abschrecken: Früher hat er sich mit seinem Bruder und anderen Spritzbesteck geteilt – und sich mit HIV und Hepatitis-C angesteckt. "Ich will anderen zeigen, dass es noch Hoffnung gibt. Unsere Gruppe ist ein kleiner Beginn für eine große Lösung." 

Die DIY-Streetworker besuchen auch die Gefängnisse, die völlig überfüllt sind. Mehr als eine Million Drogennutzer haben sich auf den Philippinen selbst ausgeliefert oder wurden verhaftet. Doch die Lage im Gefängnis verschlimmert oft die Sucht. Rodrigo war selbst drei Jahre in Haft. Im Gefängnis nahm er noch mehr Drogen, um die Zeit zu überstehen.

"Die Regierung hat derzeit noch kein Programm, das Familien wie unsere auffängt", kritisiert Jon. 

Sie seien aber nicht wütend auf ihre Familie, die sie ja überhaupt erst an die Drogen herangeführt hat. "Es ist die Kultur, die uns und meine Familie dazu macht, wer wir sind", sagt Rodrigo. "Ich hasse das System, aber nicht meine Familie." 

Der Drogenboss der Familie, der Onkel der Brüder, hat jetzt einen neuen Job. Er arbeitet für die Regierung. Er dealt zwar nicht mehr, Drogen nimmt er aber immer noch.

 Die Recherche wurde vom Health Reporting Grant des European Journalism Centre (EJC) mitfinanziert.

(*Namen aus Sicherheitsgründen geändert)

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