Polizeipsychologe über Serienmörder "Mehr als eine Zeitbombe"
SPIEGEL ONLINE:
Was spricht dafür, dass der mutmaßliche Mörder von Levke und Felix, der 31-jährige Familienvater Marc Hoffmann, mehr als zweimal getötet hat?
Gallwitz: Der extrem kurze Abstand zwischen den beiden Tötungsdelikten, die Hoffmann eingeräumt hat, könnte ein Hinweis darauf sein, dass er mehrfach getötet hat. Felix wurde nur knapp sechs Monate nach Levke als vermisst gemeldet. Auch die Art und Weise, wie die Leiche des achtjährigen Felix entsorgt wurde, sprechen dafür, dass es sich bei dem Mord nicht um die erste Tat handelte. Der Junge war in eine Plastikfolie verpackt und mit Steinen beschwert in einen Fluss geworfen worden. Die Überreste des Opfers wären ohne den Hinweis des Täters sehr wahrscheinlich nie gefunden worden - das beweist, dass er großen Wert darauf gelegt hat, nicht erwischt zu werden. Für einen Menschen, der das erste Mal tötet, ist es sehr schwierig, bei der Verschleierung seiner Tat alle wichtigen Details zu beachten und keine Fehler zu begehen.
SPIEGEL ONLINE: Zeigt Hoffmann die klassischen Charakteristika eines Serientäters?
Gallwitz: Er zeigt die typischen Merkmale eines Ausbeutungstäters. Wir unterscheiden zwei große Täter-Gruppierungen bei sexuellen Übergriffen auf Kinder: Die eine Gruppe umfasst die fixierten Täter, die in ihren kindlichen Opfern den idealen Sexualpartner sehen. Die zweite vereint die sogenannten situationsmotivierten Täter, die aus unterschiedlichen Gründen das mitnehmen, was sich ergibt. In dieser Gruppe gibt es den Typus des Ausbeutungstäters, der sich aus der Situation heraus greift, was am einfachsten verfügbar ist. Deswegen ist es nicht überraschend, dass Hoffmann sowohl ein Mädchen als auch einen Jungen getötet hat. Er ist nicht auf eine bestimmte Altersgruppe oder ein Geschlecht fixiert und hat offenbar auch keine bestimmte sexuelle Vorliebe. Was sich in den Verbrechen des Ausbeutungstäters offenbart, ist in der Regel auch Teil seines Lebensstils - er betrügt, belügt und benutzt die Menschen in seinem persönlichen Umfeld. Weil es dabei um Macht geht, bieten sich Kinder als Inbegriff der Machtlosigkeit als Opfer an. Der Täter betrachtet sie als Gegenstand, als Objekt.
SPIEGEL ONLINE: Was verrät der zeitliche Abstand von sechs Monaten zwischen den Straftaten an Felix und Levke über den Täter?
Gallwitz: Das ist ein furchtbar geringer Abstand. Wenn ich davon ausgehe, dass sich ein Mehrfachtäter über Jahre entwickelt und die Abstände zwischen den Delikten in der Regel immer kürzer werden, dann ist das mehr als eine Zeitbombe. Man darf auch nicht vergessen: Der Täter muss die Kinder erst mal finden, da vergeht viel Zeit mit fehlgeschlagenen Annäherungsversuchen. Auch bei polizeilichen Fahndungserfolgen in vergleichbaren Fällen wird ein potenzieller Kindermörder immer vorsichtig agieren und sich teilweise zurücknehmen.
SPIEGEL ONLINE: Was passiert im Bewusstsein eines Täters, der selbst zwei Kinder hat und doch andere missbraucht und tötet?
Gallwitz: So schlimm es klingen mag - das ist etwas, was nur Außerstehende erschütternd und unverständlich finden. Viele der Kindermörder sind liebevolle Familienväter, Tierfreunde oder hilfsbereite Nachbarn. In ihrem Inneren trennen sie die beiden Welten jedoch komplett. Wenn es um die Opfer geht, leben sie ihre Brutalität aus. Keiner von uns weiß genau, was hinter einer freundlichen Fassade steckt. Vielleicht ist ein Teil dieser Fassade nur möglich, weil der Mensch andererseits Phantasien hat, die er ausleben möchte.
SPIEGEL ONLINE: Sind Missbrauch innerhalb und außerhalb der Familie oft gekoppelt?
Gallwitz: Manche Täter missbrauchen die eigenen Kinder, andere leben ihre dunkle Seite ausschließlich jenseits der Familie aus. Ich kenne einen Fall, in dem ein Mann sowohl seine neun leiblichen als auch fremde Kinder missbraucht hat. Es gibt Menschen, die sich unter Kontrolle haben und den familiären Raum aussparen - auch weil hier die Gefahr, entdeckt zu werden, viel größer ist. Nicht zu unterschätzen ist die Frage, wie ein Täter seine Phantasien im Bereich Pornographie auslebt. Die Internet-Pädophilie erlebt zurzeit einen Boom, den man sich gar nicht vorstellen kann. Zu glauben, dass Pornographie im Netz eine Ventilfunktion für abnorme Phantasien haben könnte, ist vollkommen naiv. Durch den Konsum von pornographischen Bildern und Filmen werden keine Straftaten vereitelt - im Gegenteil, sie können erst Appetit machen. Der Realitätssinn der Nutzer verschiebt sich derart, dass sie glauben, die Frauen und Kinder in den Filmen würden tatsächlich so denken und fühlen wie dargestellt.
Das Interview führte Annette Langer