Reaktorkatastrophe TV-Sender bereitet Japaner auf Strahlengefahr vor
Tokio - Wer in Japan bislang noch geglaubt hat, dass die nach dem schweren Erdbeben eine regionale Angelegenheit sei, die den Rest der Nation nicht ernsthaft betrifft, weiß spätestens jetzt, wie konkret die Gefahr ist. Und dass die beschädigten Atommeiler eben nicht mehr unter Kontrolle sind. Der öffentlich-rechtliche TV-Sender NHK hat am Dienstag der Bevölkerung erstmals Ratschläge gegeben, wie man sich vor radioaktiver Verstrahlung schützt.
Feuchte Lappen ins Gesicht und häufig Kleidung wechseln: Das ist das Hausrezept der Experten für den Fall einer Kontamination - es klingt fast noch ein wenig harmlos. Möglichst in geschlossenen Räumen bleiben, rät der Sender seinen Zuschauern in gefährdeten Gebieten weiter. Wer unbedingt raus müsse, solle seine Haut bedecken und durch einen feuchten Lappen atmen. Gegen verstrahlte Partikel könne Schutzkleidung helfen, wie etwa wasserdichte Regensachen. Damit ließen sich die Strahlen zwar nicht abwehren, aber so werde zumindest verhindert, dass sich verseuchte Partikel auf der Haut absetzen. Auch häufiges Händewaschen helfe, hieß es bei NHK.
Ernster klingt dann schon die Mahnung der Fachleute, kein Wasser aus der Leitung zu trinken - es bestehe hohes Strahlungsrisiko. Aber wie gefährlich ist die Lage wirklich?

Klicken Sie auf das Bild, um die Animation zu starten: Die radioaktive Wolke treibt Richtung Tokio. Wie stark die Strahlung wird, hängt von der weiteren Freisetzung am beschädigten AKW Fukushima ab.
Foto: ZAMGAusländische Beobachter haben bis jetzt immer betont, wie ruhig die Menschen im Angesicht der Katastrophe bleiben, wie wenig Panik aufkommt. Doch nun überschlagen sich die Hiobsbotschaften ( Liveticker hier) - und Besonnenheit und vorsichtige Sorge schlägt bei vielen Menschen in Angst um.
Auch die Klagen über eine mangelhafte Informationspolitik werden lauter, der Ton schriller: "Das wird ganz schlimm. Aber die Behörden berichten nicht richtig. Die sagen uns nicht, was wirklich ist. Die belügen uns. Wir alle haben solche Angst", sagt Kiyoko Yoshimura aus Tokio verzweifelt Reportern der Nachrichtenagentur dpa. "Viele fliehen mit ihren kleinen Kindern, wer die Möglichkeit hat, geht in den Süden", sagt sie. "Ich bin in Sorge um meine Enkel, die sollen nicht verstrahlt werden." Man versuche, Normalität vorzugaukeln. "Es wird alles getan, um keine Panik auszulösen. Im Kindergarten nebenan soll es morgen ein großes Fest geben." Auch ihre Freundin Tomoko kritisiert: "Es wird nicht korrekt informiert."
Das wäre dringend notwendig. Es hat im Katastrophenmeiler Fukushima, 240 Kilometer von Tokio entfernt, erneut eine Explosion gegeben. Die Regierung forderte die Betreiberfirma auf, dennoch auf keinen Fall alle Mitarbeiter aus der Anlage zu evakuieren, damit man einen Zugriff auf die Anlage behält. Erhöhte Radioaktivität wird inzwischen bis in die Hauptstadt gemessen, der Wind treibt eine radioaktive Wolke vor sich her. Dann erschütterte ein weiteres Nachbeben der Stärke 6 den Osten Japans.
TV-Bilder spiegeln Erschöpfung und Zweifel der Bürger
Es sind so viele Meldungen, wer kann das so schnell verstehen und einordnen? "Innere Reaktor-Schutzhülle beschädigt", "Kernschmelze nicht ausgeschlossen", "sehr schlimme Situation" - Japans Medien verbreiten die Horrormeldungen im Minutentakt.
Die Geduld hat bei vielen Bürgern ein Ende, Verzweiflung macht sich breit - aber auch die Kritik an der Regierung und am Betreiber des Atomkraftwerks, Tepco. Regierungssprecher Yukio Edano - bisher immer sehr zurückhaltend in seiner Bewertung - räumt nun eine Gesundheitsgefahr ausdrücklich ein. Ministerpräsident Naoto Kan, selbst unter Druck, greift den AKW-Betreiber an, er sei als Regierungschef zu langsam informiert worden. "Kan hat massiv auf den Tisch gehauen, und auch NHK hat sich auf Tepco eingeschossen, aber Tepco bekommt jetzt natürlich auch ein bisschen die Sündenbockrolle", sagt Japanologe Reinhard Zöllner in Tokio.

"Die Menschen sind stinksauer", berichtet Zöllner. "Erst hieß es immer: 'Ja, wir haben die Situation im Griff.' Und jetzt die plötzliche Anordnung nahe Fukushima, dass alle weg müssen." Die Anspannung wachse massiv, aber die Stimmung sei noch nicht in Richtung Panik oder Chaos gekippt, glaubt er. "Die Regale werden leerer, die Warteschlangen länger, viele Grundschulen machen nach vier Stunden schon zu, weil die Lebensmittel für die Schulspeisung fehlen. Und immer mehr Leute verlangen konkrete Infos", beschreibt er die Lage in der Metropole. "Wir sind hier heute Morgen alle sehr schockiert gewesen, wir dachten: Das ist jetzt der Super-GAU. Aber die Lage scheint sich wohl doch noch mal zu stabilisieren."
In den Fernsehbildern spiegeln sich Erschöpfung und Zweifel der Betroffenen: "Es war sehr beängstigend", berichtet eine evakuierte Frau im japanischen TV nach der jüngsten Explosion im Reaktor. "Die Atomkraft macht mir sehr viel Angst", sagt ein Betroffener auf n-tv. Viele bemängeln, die Regierung verschweige ihnen die Wahrheit, das tatsächliche Ausmaß der Katastrophe. Weitere Menschen müssen Schulen, Turnhallen und andere Provisorien aufsuchen, alles zurücklassen. Mehrere hunderttausend sind obdachlos, ihr einstiges Leben im Hightech-Land reduziert sich auf eine kleine Matte und ein paar Reisbällchen.
Japans Außenminister mahnt beim G-8-Treffen zur Besonnenheit
Auch Michael Paumen aus Yokohama nahe Tokio meint, die Informationspolitik der Regierung sei schlecht: "Hier erzählt einem keiner die Wahrheit." Seine japanische Frau und die beiden Töchter sind schon nach Kyoto ausgewichen. "Ich kann jeden verstehen, der jetzt flüchtet", sagt Zöllner. "Aber ich glaube, die große Mehrheit denkt nicht: Nach mir die Sintflut - und bleibt. Wenn im Großraum Tokio nicht mehr gearbeitet würde, wäre das auch das Ende der japanischen Wirtschaft - und würde einen Wiederaufbau unmöglich machen." Kiyoko Yoshimura dagegen überlegt, ob sie das Land nun verlassen soll: "Eine Freundin in Spanien hat mir und meiner Familie angeboten, dort unterzukommen."

Im fernen Westen versucht zur gleichen Zeit der japanische Außenminister Takeaki Matsumoto, die internationale Gemeinschaft zu beruhigen. "Wir bitten die Länder, ruhig Blut zu bewahren", sagte Matsumoto am Dienstag beim Treffen der G-8-Außenminister in Paris. Er versicherte, dass seine Regierung alles tue, um die Lage unter Kontrolle zu bringen. "Wir erstatten der Internationalen Atomenergie-Behörde (IAEA) regelmäßig Bericht, und wir informieren die Medien und die Diplomaten vor Ort", betonte er.
Aber auch für gewissenhafte Öffentlichkeitsarbeiter geht es im Moment einfach zu schnell. Bevor sie die letzte schlechte Nachricht erklärt haben, geht schon die nächste Meldung über Explosionen, über Löcher in Druckbehältern oder steigende Radioaktivität ein. Gewissheit gibt es nur in der Bilanz der Katastrophe. Tote und zerstörte Häuser kann man zählen.
- Die offizielle Zahl der bei der Erdbeben- und Tsunami-Katastrophe in Japan ums Leben gekommenen Menschen ist auf 3373 gestiegen,
- 6746 Menschen werden vermisst,
- weitere 1897 Menschen wurden verletzt.
- Bei dem Erdbeben der Stärke 9,0 und dem anschließenden Tsunami, der ganze Ortschaften wegspülte, wurden nach Polizeiangaben mehr als 55.380 Häuser zerstört oder beschädigt, mehr als 3000 weitere Häuser wurden überschwemmt, und rund 130 Häuser brannten ab.
