Reality-TV Warum CNN den Sniper liebt

Der Heckenschütze von Washington ist der Traum der 24-Stunden-Nachrichtensender - wie O.J. Simpson, nur besser. Die Amerikaner fiebern mit wie in einer Krimi-Serie, die Einschaltquoten sind auf Rekordniveau. Selbst die Fahnder kommen inzwischen um das Fernsehen nicht mehr herum.

New York - Am Montag mischte sich auch noch David Berkowitz in die Debatte ein. Der als "Son of Sam" bekannte Serienkiller schrieb einen Brief aus seiner Zelle in einem Hochsicherheitsgefängnis. Seine Meinung zum Sniper wurde vor einem Millionenpublikum auf "Fox News" verlesen - einem der drei amerikanischen Rund-um-die-Uhr-Nachrichtensender.

Er frage sich, schrieb Berkowitz, ob der Sniper vielleicht von dem neuen Hannibal-Lecter-Film "Red Dragon" inspiriert sei. Berkowitz' Spekulation ist nebensächlich. Was zählt, ist die Tatsache, dass das US-Fernsehpublikum eine neue Lieblingsserie hat, in der Charaktere wie der inhaftierte Mörder Berkowitz die Hauptrollen spielen.

Die Jagd auf den Sniper ist längst zum Unterhaltungsprogramm geworden, mit einem Cast und einem Plot, auf den die "Law and Order"-Produzenten stolz wären. Da ist der Polizeichef von Montgomery County, Charles Moose, die Verkörperung des guten Cops. Da ist der Phantomkiller, der mittels Tarot-Karten kommuniziert. Und da sind die "Experten", die immer neue Theorien über "Kill Zones" und "Ablenkungsfahrzeuge" zum Besten geben.

Rund um Washington verbreitet der Heckenschütze echten Terror. Seine Attacken aus dem Nichts haben den Alltag in den sonst so friedlichen Suburbs radikal verändert. Aber im Rest des Landes herrscht pure Spannung, wie es weiter geht. "Das amerikanische Fernsehpublikum liebt 'Wer-ist-der-Mörder-Plots'", sagt Andrew Tyndall, ein Medienkritiker, der wöchentlich den "Tyndall Report" (www.tyndallreport.com) veröffentlicht.

Das sei der Hauptgrund, so Tyndall, warum eine lokale Serienkiller-Geschichte landesweit derart prominent gefahren wird. Die Serie läuft 24 Stunden lang auf den Kabelsendern CNN, MSNBC und Fox News. Lokale und nationale Stationen schalten nach Bedarf ebenfalls live. Wenige Minuten, nachdem der Killer zugeschlagen hat, bekommen die Zuschauer Bilder vom Tatort serviert - noch bevor das Blut getrocknet ist. Als am Montagmorgen die Festnahme zweier Tatverdächtiger mit einem weißen Van bekannt wurde, rasten gleich fünf Kamera-Teams von ABC News los.

Mit journalistischen Argumenten lasse sich die Dauer-Berichterstattung längst nicht mehr rechtfertigen, sagt Tyndall. Vergangene Woche gab es genau einen Toten. Trotzdem beherrschte der Sniper die Nachrichten, selbst auf den nationalen Networks ABC, NBC und CBS. Volle 76 Minuten verwandten die Abendnachrichten der drei Sender zwischen Montag und Freitag auf den Scharfschützen. Mit 28 Minuten abgeschlagen auf dem zweiten Platz: die Irak-Krise. Auf dem dritten Platz: der Terroranschlag in Bali (19 Minuten).

Noch monothematischer geht es bei den Kabelnachrichtensendern zu. "Es gibt zehn Minuten echte News, und sie füllen vier Stunden damit", kritisierte Matthew Felling, Direktor des Center for Media and Public Affairs in Washington, gegenüber CNN.com.

Um die Nachrichtenlöcher zu überbrücken, fahren die Sender die übliche Parade so genannter "Experten" auf. Es sind immer die gleichen Typen: Ehemalige Scharfschützen, Ex-Cops und natürlich Professoren, vorzugsweise der Kriminologie und Psychiatrie. Die Fragen der Talkshow-Moderatoren kann niemand wirklich beantworten. Gestellt werden sie trotzdem. "Wird diese Person noch mal zuschlagen?", lautet eine beliebte Frage, oder "Würde er sich ergeben?".

Die Meinungen wiederholen sich, und sie widersprechen sich. Letztendlich kommt es auf den Inhalt auch nicht an: Hauptsache, das Logo "Jagd auf den Sniper" ist immer im Bild und der Ticker läuft. Da sagt ein gewisser Robert Ressler, angeblich ein "legendärer" FBI-Profiler, dass es sich auf jeden Fall um mehrere Täter handele. Ein anderer, ausgewiesen als Psychiater Michael Welner, der bereits drei Serienkiller in Behandlung hatte, ist überzeugt, dass der Täter inzwischen Angst habe und auf Ablenkung aus sei. Und CNN-Korrespondent Mitchell Miller denkt bereits in die Zukunft: "Heute ist Freitag. Er hat noch nie am Wochenende zugeschlagen. Wird er warten oder uns überraschen?"

Die Zuschauer scheinen dieses sinnlose Spekulieren zu lieben. Die Einschaltquoten sind so hoch wie dieses Jahr noch nie: CNN und Fox News haben ihre durchschnittliches Publikum verdoppelt. Rund eine Million Amerikaner schauen zu jedem gegebenen Zeitpunkt während des Tages zu.

Die Sender sehen sich durch das Interesse bestätigt. "Das ist eine Geschichte, die uns alle angeht", sagt Teya Ryan, Vizepräsidentin von CNN. "Psychologisch" halte das Drama die ganze Nation im Griff. Und die Öffentlichkeit habe ein Recht auf Information.

Kritiker allerdings sehen andere Motive am Werk und verurteilen die exzessive Berichterstattung als gefährlich. "Die Kabelshows sind schuld daran, dass Experten darüber spekulieren, was die Polizei als nächstes tut. Das könnte dem Killer helfen und ihm Ideen geben", sagte Tom Rosenstiel, Direktor des Project for Excellence in Journalism, dem "Boston Globe".

Der Killer scheint tatsächlich fernzusehen. Zweimal bereits hat er offensichtlich auf die öffentliche Diskussion reagiert: Einen Tag, nachdem Polizeichef Moose die Schulen für sicher erklärt hatte, schoss er einen Schüler in den Bauch. Und am vergangenen Samstag schlug er zum ersten Mal an einem Wochenende zu. Hatte er am Freitag CNN geguckt?

Es ist eine perverse Form des Reality-TV, und auch die Polizei kann sich dem Spiel nicht ganz entziehen. Inzwischen wird die Fahndung offen übers Fernsehen ausgetragen. Polizeichef Moose verliest kryptische Botschaften an den Killer und versucht, einen Dialog zu etablieren.

Befürworter dieser Strategie sagen, sie signalisiere dem Sniper, dass man ihn ernst nehme. Kritiker aber halten sie für kontraproduktiv. "Er spielt die Polizei wie eine Violine", sagte James Alan Fox, Kriminologie-Professor an der Northeastern University, gegenüber der "New York Times". "Er amüsiert sich".

Und noch jemand findet die verschlüsselten Botschaften der Polizei wahrscheinlich höchst spannend, schließlich verbessern sie den Plot: Der Krimi-Zuschauer.

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