Fotostrecke

Rekordstraße in Reutlingen: Schmaler als alle anderen

Foto: SPIEGEL ONLINE

31 Zentimeter breite Straße Das bisschen Weltrekord

Für die einen ist es nur ein Spalt zwischen zwei Häusern, für die anderen die engste Gasse der Welt: Die Spreuerhofstraße in Reutlingen hat es ins Guinness-Buch der Rekorde geschafft. Doch an der Attraktion ist etwas faul - das Gebälk eines angrenzenden Gebäudes. Der Rekord ist in Gefahr.

Eugen Wendler kämpft für diese 31 Zentimeter. Der 73-Jährige - graue Jacke, dunkelblauer Pullover, hellblaues Hemd, Krawatte - steht in einer Seitenstraße in der Reutlinger Innenstadt. Inmitten schwäbischer Gediegenheit aus Pflastersteinen, Blumenkübeln und akkurat aufgestellten Mülltonnen gilt es, ein Stückchen Reutlinger Einzigartigkeit zu verteidigen.

Hier, zwischen dem Haus Spreuerhofstraße Nummer 9 und dem Gebäude nebenan, gibt es einen Spalt. Dieser Spalt ist an der schmalsten Stelle 31 Zentimeter breit. Zudem ist der 3,80 Meter lange Durchgang öffentlicher Grund. Und das macht ihn zur engsten Straße der Welt, wie seit 2007 auch offiziell im Guinness-Buch der Rekorde nachzulesen ist.

An der Wand hinter Wendler ist ein Schild angebracht. "Spreuerhofstraße Reutlingen", steht darauf, "Engste Straße der Welt". Entstanden ist die bauliche Kuriosität nach dem großen Stadtbrand 1726, als die fast völlig verwüstete Stadt neu aufgebaut wurde. Schon Dokumente aus der damaligen Zeit weisen das Gebiet als öffentlichen Grund aus.

Wendler, Verfasser einer Stadtgeschichte Reutlingens und Stadtführer, ist sich der historischen Dimension des Rekordes bewusst. Tübingen, ein paar Kilometer westlich, hat die große Uni, die schönere Altstadt und den Neckar. Metzingen, ein paar Kilometer östlich, hat jede Menge Outlet-Läden. New York hat den Broadway. Berlin den Kurfürstendamm. Paris den Champs-Elysées. Und Reutlingen die Spreuerhofstraße. Deshalb sind diese 31 Zentimeter so wichtig.

"Reutlingens kleinste Attraktion"

31 Zentimeter sind kaum mehr als die Breite des Computermonitors. Ein Billy-Regal würde die Rekordstraße komplett blockieren. Für Kinderwagen ist sie ohnehin zu schmal. Jeder über 1,80 Meter muss sich beim Durchqueren bücken.

"Die Schwaben sind bekannt für ihre Bescheidenheit, deswegen ist das ein typisch schwäbischer Rekord", sagt Tanja Ulmer, Leiterin des Stadtmarketings. Die Straße sei "Reutlingens kleinste Attraktion, aber sehr bedeutend", beliebt besonders bei Asiaten und Amerikanern. "Die Leute wollen bei Stadtführungen die Straße sehen, das ist ein Muss", sagt auch Wendler.

Allein: An der Attraktion ist was faul - das Gebälk im Haus Nummer 9. Eindringende Feuchtigkeit hat es morsch werden lassen. Deswegen neigt sich die Wand Richtung Nachbargebäude, seit 2007 hat sie sich schon einige Zentimeter bewegt. Zwischen der Dachrinne und dem anderen Haus sind nur noch wenige Millimeter Platz.

Löchriges Dach, marodes Gebälk

Die engste Straße der Welt droht noch enger zu werden. So eng, dass sie zum Tunnel und irgendwann vielleicht sogar unpassierbar werden könnte. Rein faktisch würde das den Vorsprung zur Rekord-Konkurrenz zwar vergrößern. "Aber eine Straße ist keine Straße mehr, wenn keiner mehr durchkommt. Dann wäre ja auch der Spaß weg", sagt Marketingchefin Ulmer. Und der Rekord wertlos.

"Die Bausubstanz auf beiden Seiten der Straße ist desolat", sagt Historiker Wendler. Besonders am Haus Nummer 9 ist das deutlich zu sehen. Das Dach ist undicht, Fachwerk bröckelt ab, nur als Notbehelf gespannter Maschendrahtzaun hält es am Platz. "Es schaut nicht mehr schön aus", sagt Ulmer.

Einfach abreißen geht nicht, dann wäre der Durchgang ja auf einmal viel breiter und der Rekord dahin. "Und eine neu gebaute Straße hätte nicht den Charme", sagt Ulmer. Es muss eine Sanierung her. Und daran hakt es. Die Beteiligten verlieren sich im Klein-Klein. So richtig möchte sich niemand bewegen, weil das hieße, in Vorleistung zu gehen.

Der Hausverwaltung, die Reutlinger Immobilienfirma Dr. Rall, möchte das Gebäude am liebsten mit Gewinn verkaufen. "Ich habe nichts davon, dass da die Touristen durchkrabbeln", sagt Geschäftsführer Titus Rall. Jemand mit Blick für das Gemeinwohl müsse das Haus übernehmen.

"Wir nehmen der Stadt ihre Attraktion nicht"

Die Stadt vielleicht? Die ist in Verhandlungen, möchte aber - ganz schwäbische Sparsamkeit - auch für einen Rekord nicht zu viel bezahlen. Lieber noch wäre ihr ein Investor, der bereit ist, das Haus zu sanieren, um danach an der schmalsten Straße der Welt zu residieren. Ob es so jemanden gibt, ist fraglich. Das Gelände zu klein, um dort wirtschaftlich sinnvoll ein Wohn- oder Geschäftshaus bauen zu können.

Sachverständige sollen nun schätzen, wie viel eine Sanierung kosten würde. Vorerst geschieht also: nichts.

Und dennoch will sich niemand hinterher vorwerfen lassen, blockiert zu haben. "Als alteingesessenes Unternehmen nehmen wir der Stadt ihre Attraktion nicht", sagt Immobilienverwalter Rall. "Die Straße ist überregional bekannt, so eine Perle sollte man nicht verkommen lassen", sagt Marketingchefin Ulmer. "Wenn nichts geschieht, muss die Gasse geschlossen werden - spätestens 2013, weil sie mehr als einen Winter nicht mehr aushält", warnt Stadtführer Wendler.

Die 31 Zentimeter soll ihnen keiner nehmen. Die brauchen sie. Für den Fremdenverkehr. Und für das Selbstwertgefühl. Denn was wäre von einer Stadt - ihrer Stadt - zu halten, die nicht einmal einen kleinen Weltrekord bewahren kann?

Mehr lesen über

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten