Rückblick 2009
POP
»Ich bin ja keine Berufskranke«
No-Angels-Star Nadja Benaissa, 27, über ihr öffentliches Leben mit HIV ("Stars auf Bewährung«, Heft 39/2009)
SPIEGEL: Wie war Ihr Jahr, Frau Benaissa?
Benaissa: Wenn ich ehrlich sein soll, war es ziemlich hart für mich - verhaftet zu werden, ins Gefängnis zu wandern, diese Vorwürfe und Stigmatisierungen abzukriegen, das Abspringen der Sponsoren für die Band, das alles verkraftet man nicht mal eben so.
SPIEGEL: Ihr Resümee für 2009?
Benaissa: Ich kann noch kein Resümee ziehen, ich bin ja mittendrin in diesem Prozess, bin dabei, mich zu wehren, meine Rolle neu zu definieren - die Sache ist ja auch juristisch noch nicht endgültig ausgestanden.
SPIEGEL: Sehen Sie sich denn nur als Opfer? Der Vorwurf lautet ja, dass Sie auch Täterin waren, ungeschützten Verkehr mit Männern hatten, wissend, dass Sie HIV-positiv waren.
Benaissa: Dazu darf ich mich nicht äußern. Möglicherweise kommt es ja doch zu einer Gerichtsverhandlung. Aber eines kann ich sagen: Ich fühle mich inzwischen besser, stärker. Ich hatte meine HIV-Infektion bis dahin eher als Privatsache behandelt, ich musste immer etwas verheimlichen. Dass dieser Geheimnis-Druck weggefallen ist, tut gut.
SPIEGEL: Sie traten beim Welt-Aids-Tag auf, bei Ihren Reden gaben Ihnen hochrangige Politiker stehend Beifall. Sehen Sie sich als HIV-Heilige?
Benaissa: Ich bin der einzige weibliche Popstar, dessen Positiv-Sein bekannt ist. Das ist schon ein Sonderstatus. Und den muss man nutzen. Ja, die Anliegen sind wichtig - ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der man offen über Sexualität, Krankheit und Risiken reden kann. Andererseits: Ich will nicht immer nur damit identifiziert werden. Ich bin ja keine Berufskranke, sondern Musikerin, wir haben eine tolle Band. Deshalb habe ich mich auch nur in zwei Talkshows zum Thema geäußert, bei Jauch und Kerner. Obwohl es an die hundert Anfragen zu Fernsehauftritten gab.
SPIEGEL: Ging das künstlerische Comeback der No Angels im HIV-Trubel um Sie unter?
Benaissa: Die Zahlen sind anständig, aber nicht sensationell. Wir waren ein paar Wochen in den Top 50, aber es war ein schwieriges Jahr für Plattenverkäufe. Sehr gut laufen unsere Konzerte. Im Mai gehen wir wieder auf Tour, wir singen auf Kreuzfahrten, treten bei Galas auf. Aber man darf nicht stehenbleiben.
Was war da los, Herr Newman?
Der britische Kneipenwirt Peter Newman, 64, über Boten der Wirtschaftskrise, Heft 18/2009
»Die beiden deutschen Containerfrachter, die im März vor meinem Gasthaus in Cornwall vor Anker gingen, liegen immer noch dort. Der River Fal dient seit je als Parkplatz in Krisenzeiten, und diese Wirtschaftskrise ist wirklich hartnäckig. Inzwischen hat der Hamburger Reeder noch zwei weitere Schiffe auf dem Fluss geparkt, der Fluss macht an dieser Stelle eine Biegung; deshalb kann man sie von meinem Garten aus nicht sehen. Von den fünf Autotransportern, die wir hier hatten, wurde einer inzwischen verschrottet. Zwei liegen noch immer hier, die beiden letzten wurden verkauft. Sie werden in Syrien zu Viehtransportern umgebaut. Ich habe gehört, dass sie künftig Schafe transportieren sollen.«
IRAN
Der ewige Termin
»Der ewige Augenblick«,
Heft 24/2009
Besser sieht ihr Gesicht aus, nicht mehr verwüstet wie ein Krater. Spanische Ärzte transplantierten Haut vom Unterarm auf die verätzten Wangen, das Kinn und ein Lid haben sie neu geformt - beide Augen aber bleiben blind. Die Iranerin Amene Bahrami, 32, die aus verschmähter Liebe von ihrem Kommilitonen Madschid Mowahedi mit Schwefelsäure übergossen wurde, wartet noch immer auf den Tag ihrer Rache. Ein Teheraner Gericht hatte ihrem Wunsch entsprochen, den Täter auf beiden Augen zu blenden, altes Scharia-Recht, wie im Alten Testament, Auge um Auge, Zahn um Zahn. Amene plante ihre Vergeltung für Sommer 2009, doch dann wurde gewählt in Iran, und Hunderttausende protestierten auf den Straßen für mehr Freiheit. Es scheint, als habe die »grüne Revolution« doch etwas bewirkt, bis heute erhielt Amene weder Erlaubnis noch Termin, um Madschid zu blenden. Sie glaubt, die Richter würden sie hinhalten, aus Angst vor der Reaktion aus dem Ausland. Trotzdem ist Amene entschlossen, ihr Recht umzusetzen, sie lebt nur für dieses eine Ziel. Sie wartet in Barcelona, wird operiert, hat Schmerzen, das Geld geht ihr aus. Seit fünf Jahren wartet auch Madschid in einem Gefängnis bei Teheran auf den Tag der Vollstreckung - ebenso verzweifelt wie sein Opfer.
FLUCHT
Zurück ins Leben
»Das Phantom von Tegel«, Heft 28/2009
Im September letzten Jahres verschwand in Finnland eine blonde Frau. Sie war nicht wie sonst in der Ambulanz bei Helsinki erschienen, um ihre Medikamente abzuholen, stattdessen hatte sie sich in ein Flugzeug gesetzt und war auf der Flucht: vor ihren Ärzten, vor Bevormundung und Behörden. Nach einer zweimonatigen Odyssee über verschiedene Flughäfen in Europa landete sie in Berlin-Tegel - und blieb. Von Dezember an lebte die Frau zwischen Terminal A und D, wusch sich auf dem Flughafen-WC, ernährte sich von Hot Sandwiches und Pfefferminztee, schlief in der Wartehalle. Sie fand den Weg zurück in die normale Welt nicht mehr, und es war nicht eindeutig, wer für ihre Betreuung zuständig war, Finnland oder Deutschland. Im Juli 2009 entschied das Amtsgericht Wedding, dass sie zurück nach Finnland geschickt wird - nach mehr als einem halben Jahr auf dem Flughafen. Sie nimmt jetzt wieder ihre Medikamente, hat Kontakt zu Verwandten und konnte eine eigene kleine Wohnung beziehen. Sie habe wieder Mut, sagt der Pfarrer Kai Henttonen, ihre einzige Vertrauensperson aus der Zeit auf dem Flughafen. Sie mache Pläne, sagt er: In naher Zukunft möchte sie sich eine Arbeitsstelle suchen.
FINANZKRISE
Alt und doof
»Das Depot«, Heft 27/2009
Die Finanzkrise hat die deutsche Sprache um einige Ausdrücke bereichert. Als »AD-Kunden«, beispielsweise, bezeichnen Bankberater Kunden, die »alt« und »doof« genug sind, um ihnen all das aufschwatzen zu können, was sich die Produktentwickler des eigenen Hauses ausdenken. So gesehen war die Stiefmutter von Benita Steinhardt eine großartige AD-Kundin für die Deutsche Bank. Sie hatte ein beträchtliches Vermögen geerbt, und die Deutsche Bank gebeten, das Ererbte zu erhalten und bescheiden zu mehren. Doch innerhalb weniger Jahre verwandelten die Berater das Depot der alten Frau in eine Deponie und ersetzten die soliden deutschen Standardwerte durch unverständliche, hochriskante Zertifikate, Fonds und Beteiligungen. Auch nachdem der SPIEGEL über den Fall berichtet hatte, baten weder die Deutsche Bank noch die beiden Berater um Entschuldigung. Dafür meldeten sich mehrere Kunden, die über ähnliche Erfahrungen berichteten. In ihrem Namen stellte ein Anwalt Strafanzeige gegen die Deutsche Bank, der sich Benita Steinhardt anschloss. Der Berater, der das Depot der alten Dame damals »neu strukturierte«, arbeitet inzwischen als »Vermögensbegleiter« bei einer kleineren Bank.
MIGRATION
Endlich unter 18
»Die Vorhut des Glücks«, Heft 16/2009
Er war 16 Jahre alt, als er mit gefälschtem Pass aus Sierra Leone nach Deutschland kam. Geflohen vor der Erinnerung an einen Bürgerkrieg, in dem er gezwungen wurde, zu töten, in dem er seine Familie verlor und seine Kindheit. In Deutschland angekommen, glaubte man Ibrahim sein Alter nicht: Er wurde in ein Münchner Heim für Erwachsene gesteckt, dort saß er die meiste Zeit apathisch auf dem Bett und krallte sich an seinem Rucksack fest. Seither versuchten Ibrahim und sein Vormund Albert Riedelsheimer, die Behörden zu überzeugen, dass er minderjährig war, ein Kind, schwer traumatisiert. Vor ein paar Wochen nun hat Ibrahim endlich seinen Kampf gewonnen: Er hat die Aufenthaltsgestattung bekommen, mit seinem richtigen Geburtsdatum darauf. Er wohnt jetzt in einer Wohngruppe mit Jugendlichen, einmal die Woche geht er zur Gruppentherapie, wo er mit anderen Jungs aus Sierra Leone die Grauen des Krieges aufzuarbeiten versucht. Er spricht Deutsch, lernt rechnen. Im März wird er 18 - nun ganz offiziell.