Ruth Klüger "Wien schreit nach Antisemitismus"

SPIEGEL: Frau Klüger, Sie forschen an der University of California in Irvine, und Sie waren Gastdozentin an der Universität Göttingen. Fahren Sie zuweilen auch in Ihre Heimatstadt Wien?

Klüger: Ja.

SPIEGEL: Aber mit anderen Gefühlen als nach Göttingen?

Klüger: Ja, das ist das Merkwürdige – wie soll ich das sagen? Man ist so persönlich programmiert, dass man seine eigenen Erfahrungen instinktiv einsetzt, anstatt ein bisschen nachzudenken. Göttingen ist für mich keine Nazi-Stadt, obwohl ich weiß, dass Braunschweig ganz in der Nähe liegt…

SPIEGEL: Wo Hitler 1932 eingebürgert worden ist.

Klüger: Genau. Aber Wien schreit nach Antisemitismus. Also jeder Pflasterstein ist antisemitisch für mich in Wien. Ich wäre ja, wenn ich nicht mit meiner Mutter und ihrer Freundin rechtzeitig geflohen wäre, kurz vor Kriegsende fast noch in Bergen-Belsen gelandet. Ich bin da aber nie hingegangen, ich gehe nicht in diese KZ-Stätten.

SPIEGEL: Für Sie sind solche Gedenkstätten auch sicher nicht gedacht.

Klüger: Trotzdem, das ist nicht mein Lager.

SPIEGEL: Sie fahren aber, um darauf zurückzukommen, zuweilen nach Wien?

Klüger: Ich habe dort auch eine Gastprofessur gehabt. Das war unangenehm. Die Kollegen waren unmöglich.

SPIEGEL: Und Sie glauben, der Antisemitismus steckt dieser Stadt immer noch in den Poren, den wird sie nicht los?

Klüger: Den wird sie nicht los. Den will sie auch gar nicht loswerden, habe ich das Gefühl. Als man mich eingeladen hatte, bin ich mit dem Gefühl dahingegangen: "Das ist die Universität, an der dein Vater studiert hat." Und in den ersten paar Wochen hat mich immer die Idee verfolgt, mein Vater stehe hinter mir. Was würde der jetzt sagen? Und nach ein paar Monaten habe ich gewusst, was er sagen würde. Er würde sagen: "Schön blöd bist du, hierher zu kommen."

SPIEGEL: Die Leser Ihres Erinnerungsbuches "weiter leben" dürften den Eindruck gewonnen haben, dass Sie ein ebenso symbiotisches wie gespanntes Verhältnis zu Ihrer Mutter hatten. War das eine Folge der frühen Isolation in Wien?

Klüger: Vielleicht. Sie dürfen nicht vergessen: Ich war noch keine sieben Jahre alt, als Hitler in Österreich einmarschiert ist. Ich war in der ersten Klasse. Mit dem Einmarsch der Deutschen fange ich überhaupt erst an, mich intensiv zu erinnern, weil diese Eindrücke ja auch rasant waren, jeden Tag irgendwas Neues. Wir jüdischen Kinder wurden aus der Schule ausgeschlossen, kamen erst in die eine jüdische Schule, dann in eine andere. Ich glaube, ich war in vier Jahren in sieben Schulen. Und ich habe natürlich nichts gelernt.

SPIEGEL: Umso intensiver war bestimmt die Bindung an Ihre Eltern.

Klüger: Nein, die Erwachsenen waren für uns Kinder generell nicht sonderlich zugänglich. Es ist ja klar, die waren alle miteinander nervös; sie wussten nicht, was noch kommen würde. Also hat man sich tunlichst von denen ferngehalten, mir blieb nur das Lesen.

SPIEGEL: Ist die Politik 1938 durch den sogenannten Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland in Ihr Leben eingetreten?

Klüger: Die Familie war sozialdemokratisch. Natürlich hat man meinem Vater sofort die Lizenz entzogen, und er konnte dann nur noch jüdische Frauen behandeln…

SPIEGEL: Ihr Vater war Frauenarzt.

Klüger: Ja, und dann ist er eingesperrt worden, weil er wohl illegal eine Abtreibung durchgeführt hat, so habe ich es in der Familie gehört.

SPIEGEL: Dazu findet sich eine Passage in Ihrem Buch, die mich ein bisschen umgetrieben hat: Ihr Vater ist 1938 allein nach Frankreich geflohen …

Klüger: … und hat meine Familie nicht mitgenommen.

SPIEGEL: Genau, und warum?

Klüger: Ich habe später mit einem Cousin in England darüber gesprochen, weil mich das auch umgetrieben hat. "Warum konnte er uns nicht mitnehmen?", habe ich ihn gefragt. Und der hat gesagt: "Bist du völlig unwissend, dass du so was daherredest? Wer hat damals gedacht, dass Kinder und Frauen in Gefahr sind." Und mein Vater war in Gefahr, er musste gehen.

SPIEGEL: Hat er denn angenommen, dass er zurückkommen könnte?

Klüger: Ich habe keine Ahnung, ich wollte, ich wüsste es. Ich meine, ich war acht, als ich diesen Mann zum letzten Mal gesehen habe.

SPIEGEL: Was wurde aus Ihrem Vater?

Klüger: Ich habe lange angenommen, dass er nach Auschwitz gekommen ist. Aber das war nicht der Fall. Als mein Buch auf Französisch herauskam, hat sich jemand bei mir gemeldet und mir von einem Transport ins Baltikum berichtet. Das waren 900 Männer. Es gibt eine Liste, und der Name meines Vaters war dabei. Na ja, andererseits, wissen Sie, ich habe inzwischen, als ich wieder in Wien war, herausgefunden, dass nur sehr wenige jüdische Kinder in Wien geblieben sind. Die Nazis hätten mich schon rausgelassen, wenn meine Mutter es zugelassen hätte. Ich hätte also nach England gehen können.

SPIEGEL: Mit einem Kindertransport?

Klüger: Ja. Es gab auch illegale Transporte nach Palästina. Aber man kann es wohl keiner Mutter übel nehmen, dass sie ihr Kind behalten will.

SPIEGEL: Wie lange sind Sie mit Ihrer Mutter in Wien geblieben?

Klüger: Bis 1942. Dann schickten Sie uns nach Theresienstadt, und dort war es sogar in einer Hinsicht besser: Da hatte ich es wieder mit Menschen zu tun. In Wien musste ich die ganze Zeit im finstren Zimmer sitzen und lesen, in meiner Not habe ich Unmengen von Gedichten auswendig gelernt. Ich kann die Schiller-Balladen noch immer auswendig. Bitte, fangen Sie nicht mit einer an, sonst höre ich nicht auf.

SPIEGEL: Keine Sorge. Was zählt zu den wichtigen Erinnerungen aus Theresienstadt?

Klüger: Man war völlig ausgehungert, aber es ist schwer, solche Erlebnisse mitzuteilen. Hunger kann man eigentlich nicht beschreiben, man kann so zwei, drei Sätze darüber sagen. Dabei war wirklich alles bis Kriegsende vom Hunger durchzogen oder untermauert. Insofern will ich keinesfalls behaupten, dass Theresienstadt ein angenehmer Ort war. Es soll nur darauf hinweisen, dass die Gesellschaft von anderen Jugendlichen ein Gegengewicht war zu den physischen Strapazen.

SPIEGEL: Wann haben Sie erfahren, dass die Bedingungen in Auschwitz unvergleichlich schlimmer werden würden?

Klüger: Noch in Theresienstadt. Deswegen wollten wir dort auch nicht weg. Das mit dem Vernichtungslager wurde zwar noch als Gerücht gehandelt. Aber eines Tages kam eine Gruppe von Kindern aus Bialystok, die fern von anderen Häftlingen gehalten wurde. Man hörte dann, dass die nicht duschen wollten, dass sie sich wahnsinnig davor gefürchtet haben. Die wussten also, das war die Methode.

SPIEGEL: Sie haben einmal erzählt, dass Ihre Mutter nach der Ankunft in Auschwitz gesagt habe: "Das überleben wir nicht, wir bringen uns um." Sie hätten das damals überhaupt nicht begriffen. Haben Sie heute Verständnis dafür?

Klüger: Ja, aber wirklich erst im Nachhinein. Denn damals schien mir meine Mutter völlig verrückt geworden. Stellen Sie sich vor, wenn Sie zwölf Jahre alt sind und Ihnen Ihre Mutter sagt: "Jetzt gehen wir sterben."

SPIEGEL: Das war für Sie unverständlich.

Klüger: Natürlich, ja, mit zwölf Jahren wollen Sie leben. Meine Mutter hat dort teilweise den Verstand verloren, aus guten Gründen. Sie hat sehr schnell wahrgenommen, dass wir in einer unseligen Umgebung gelandet waren. Dass da etwas geschieht, was es noch nie gegeben hat. Andere, normalere Menschen – wenn Sie so wollen – haben hingegen gesagt: "Ja, aber wir sind doch in Mitteleuropa." Das hat eine Frau, die mit uns ankam, wirklich gesagt.

SPIEGEL: Was Sie schon damals für ein seltsames Argument gehalten haben?

Klüger: Ja, und meine Mutter hat das eben aus dieser merkwürdigen Paranoia, die sie wahrscheinlich schon vorher hatte – ich weiß es nicht –, abgelehnt und war überzeugt, dass es einem hier an den Kragen geht. Sie war bis an das Ende ihres Lebens noch paranoid. Wir sind mal an einer Unfallstätte vorbeigefahren, und sie hat gesagt: "Siehst du die Polizei, die wollen mich deportieren."

SPIEGEL: Gut, das kann eine Folge dieser schrecklichen Erfahrungen sein …

Klüger: Es kann sein. Aber interessanter ist doch die Überlegung, ob Menschen, die paranoid sind, wenn sie wirklich verfolgt werden, besser reagieren als solche, die es nicht sind. Das wiederum widerspräche dann der Theorie von Bruno Bettelheim und anderen, dass ein völlig rationaler Mensch, ein richtig erzogener Mensch wissen würde, wie man in Notfällen und in Krisen richtig reagiert. Dass man sich dann zum Beispiel zu den Partisanen schlägt und sich wehrt. Aber das funktioniert offenbar nicht so. Es sind die Verrückten, die auf verrückte Situationen richtig reagieren.

SPIEGEL: Eine schöne Theorie, wie Sie sie vielleicht am Beispiel Ihrer Mutter auch beweisen könnten …

Klüger: Ja, Sie glauben das nicht?

SPIEGEL: Ich weiß es nicht. Noch einmal zurück zu dieser Frau, die bei der Ankunft in Auschwitz sagt: "Aber wir sind doch in Mitteleuropa." Womit sie wohl sagen wollte, solche Gerüchte wie die von einer Vergasung der Häftlinge seien unglaubhaft. Wie war das, haben Sie sich damals über die Reaktion dieser Frau gewundert?

Klüger: Ein bisschen schon. Damals kam ich langsam darauf, dass die Erwachsenen eigentlich weniger wissen als ich. Dass ich den Erwachsenen voraus bin, weil ich in diese Zeit hineingeboren bin und mich nicht anpassen muss.

SPIEGEL: Das haben Sie schon als Kind gewusst?

Klüger: Sicher, die Erwachsenen haben fortwährend von Dingen gesprochen, die ich nicht kannte. Alles, was mit einem freien Leben in der Mittelklasse zusammenhängt, und das habe ich ja alles nicht gekannt. Dafür habe ich Vorsicht gelernt, von Anfang an.

SPIEGEL: Ich finde diesen Unglauben eigentlich sehr vernünftig. Die Frau hat doch nur darauf vertraut, dass eine so fortgeschrittene Kultur wie die deutsche auch zu einer Sensibilisierung der Menschen geführt haben müsste.

Klüger: Ja und? Dieser Völkermord ist doch in Mitteleuropa verübt worden, von einem Land, in dem es praktisch keine Analphabeten gab.

SPIEGEL: Das wissen wir jetzt. Und im Übrigen: Glauben Sie nicht doch, dass diese mitteleuropäische Kultur so etwas wie einen Schutzschild vor der Barbarei bietet, wenn auch keinen vollkommenen?

Klüger: Ich bin da viel zu nüchtern. Ich glaube nicht, dass uns das irgendwie vor irgendwas bewahrt hat. Im Gegenteil. Bei den Völkern, die wir früher als primitiv bezeichnet haben, sind immerhin die Regeln sehr fest. Da weiß man zum Beispiel, dass die vielleicht ihre Feinde skalpieren, aber nicht ihre eigenen Leute. Darauf konnte man sich im kultivierten Europa nicht verlassen. Denn wir waren ja die "eigenen Leute". Wir waren deutsche, österreichische Staatsbürger. Und dass wir nicht in die Kirche gegangen sind, das hat doch in Wahrheit wenige Leute gestört, zumal sie selbst immer weniger in die Kirche gingen.

SPIEGEL: Sie waren in Auschwitz extremen physischen und natürlich auch psychischen Belastungen ausgesetzt. Erleben Sie heute Situationen, die Sie noch daran erinnern?

Klüger: Ach, wissen Sie, jahrelang hatte ich mir etwas darauf eingebildet, dass ich jemand sei, der im Konzentrationslager überleben kann. Aber je älter ich geworden bin, desto mehr ist mir klar geworden, dass ich das nicht kann. Und jetzt, da ich alt bin, weiß ich: Ich könnte das keine zwei Wochen überleben.

SPIEGEL: Natürlich waren Sie damals physisch stärker.

Klüger: Ja, gut. Aber Sie fragen, was da so hochkommt. Das ist mir einmal passiert, da war ich wirklich total durchgefroren. Ich hatte mich ausgesperrt und stand die ganze Nacht vor der Haustür. Es war bitter kalt. Um fünf Uhr kam erst jemand mit der Zeitung und hat mich reingelassen. Ich war so durchfroren, dass ich Stunden gebraucht habe – eine warme Dusche und so weiter –, bevor die Kälte weg war. Aber irgendwie hat es mich an das alles erinnert und vielleicht sogar ein Gefühl von Zusammengehörigkeit mit diesen Menschen aus meiner Kindheit hervorgerufen, ja eine gewisse Bestätigung oder sogar Befriedigung.

SPIEGEL: Erinnern Sie sich auch an konkrete Situationen in Auschwitz?

Klüger: Selten. Diese ganze KZ-Erfahrung erscheint mir einerseits so weit entfernt, dass es fast unmöglich ist, sich das noch richtig vorzustellen. Und ich verstehe nicht, dass ich da wirklich einmal drin war. Andererseits ist es aber auch das Umgekehrte …

SPIEGEL: Dass es ganz nah ist?

Klüger: Nein, dass man sich fragt: Wie ist man da je herausgekommen? Wie war es möglich, dass man entkommen ist. Das kommt mir auch manchmal in den Sinn, immer wieder.

SPIEGEL: Und wie sind Sie schließlich herausgekommen?

Klüger: Es gab diese Selektion, im Juni 1944. Es schien damals so einfach: Erst war ich abgelehnt worden, dann bin ich wieder reingegangen, und es hat geklappt. Heute dagegen scheint es mir eine irre Sache gewesen zu sein. Ich bin wirklich eine der Jüngsten, die Sie finden werden, die um diese Zeit in Birkenau war und rausgekommen ist. Ich war wirklich erst zwölf.

SPIEGEL: Sie sind erst 1944 im Oktober 13 Jahre alt geworden.

Klüger: Ja. Wir sind ja nicht schon bei der Ankunft an der Rampe selektiert worden, sondern erst mal in dieses sogenannte Familienlager gekommen, meine Mutter und ich. Das Familienlager war natürlich keine freundliche, gemütliche Wohnzimmersache, sondern es bedeutete einfach, dass da Männer und Frauen im selben Lager waren, alle aus Theresienstadt. Und bei dieser Selektion sollten sich Frauen zwischen 15 und 45 zur Arbeit melden. Meine Mutter sagte: "Das muss man machen, das ist unsere einzige Chance." Und ich habe gesagt: "Aber ich bin zwölf und schaue auch nicht älter aus." Und daraufhin hat sie gesagt: "Dann sag, dass du 15 bist." Und ich habe gedacht, da habe ich nichts als Schwierigkeiten und weiß Gott, was mir da passieren wird, wenn ich so offensichtlich lüge. Also habe ich mich angestellt, und als ich dran war, habe ich gesagt, ich sei 13. Da bin ich abgelehnt worden.

SPIEGEL: Sind Sie sofort von Ihrer Mutter getrennt worden?

Klüger: Nein, wir standen dann erst mal rum. Und meine Mutter sagte: "Jetzt geh noch einmal, und mach es noch einmal." Und das habe ich dann auch getan, weil sie mich so provoziert hat. Ich war total dagegen, habe es immer noch nicht geglaubt. Ich war schon damals sehr skeptisch meiner Mutter gegenüber. Diesmal stellte ich mich in einer anderen Reihe an. Und ich glaube, diese Reihe, in der ich stand, wurde von Dr. Mengele kontrolliert …

SPIEGEL: … als Arzt, der über Tod oder Leben entscheidet.

Klüger: Ich denke schon, ich will nicht so angeben mit Namen, die berühmt sind. Auf den Bildern, die ich später gesehen habe, meine ich ihn zu erkennen. Und dann kam eine Schreiberin auf mich zu, und fragte mich kurz bevor ich an der Reihe war: "Wie alt bist du?" Und ich sagte: "13." Und sie sagte: "Sag, dass du 15 bist." Es dauerte noch so ein, zwei Minuten, bis ich dran kam, und da habe ich dann dem Arzt einfach gesagt: "Ich bin 15", und der hat gesagt: "Aber sie sieht nicht danach aus, sie sieht schwach aus." Und die Schreiberin sagte: "Nein, nein, die sieht doch stark aus. Schauen Sie, die hat starke Beine, die kann arbeiten." Das hat sie sehr freundlich gesagt.

SPIEGEL: Die Schreiberin war sicherlich ein Häftling.

Klüger: Ja, sie war ein Häftling, unvergesslich. Die kann das nur aus einem Grund getan haben – sie wollte etwas Gutes tun, sie wollte mir helfen. Aus überhaupt keinem Grund, einfach so. Für mich ist das sozusagen der Inbegriff des unmotivierten Guten schlechthin, diese Szene. An die habe ich natürlich seither oft gedacht.

SPIEGEL: Haben sich die Lageraufseherinnen eigentlich anders verhalten als die SS-Männer?

Klüger: In Auschwitz selbst habe ich es sehr schnell mitbekommen, dass man möglichst nicht auffallen sollte. Darum hatte ich auch wenig zu tun mit den SS-Leuten. Die haben nur furchtbar viel herumgeschrien. Das taten allerdings auch die Blockältesten, die Häftlinge waren. Man wurde also ununterbrochen angefaucht und angeschrien. Und ich habe mich klein gemacht. Was nicht schwer war, ich war klein.

SPIEGEL: Und später im Arbeitslager?

Klüger: Mit Aufseherinnen hatte ich eigentlich erst in Christianstadt zu tun, wo wir von Auschwitz hingebracht worden waren, das war ein Außenlager von Groß-Rosen in Schlesien. Manche dieser Frauen waren bösartig, andere waren es nicht. Im großen Ganzen sind Frauen eben weniger gewalttätig als Männer.

SPIEGEL: Was mussten Sie dort machen?

Klüger: Die älteren Leute haben in Munitionsfabriken gearbeitet. Ich habe immer draußen im Freien gearbeitet, im Wald oder im Steinbruch.

SPIEGEL: Und auch da waren Sie an der Seite Ihrer Mutter?

Klüger: Nein, die hat ganz woanders gearbeitet, aber im selben Lager, ja. Ich war immer mit ihr zusammen.

SPIEGEL: Trotz aller Spannungen muss dieses Zusammenbleiben mit Ihrer Mutter doch ein Segen für Sie gewesen sein.

Klüger: Sicher, ich will das gar nicht abstreiten. Aber das Großartige war, dass meine Mutter diese wunderbare Freundin Susi gefunden hatte, die ich so sehr mochte. Die ist erst vor drei Jahren hier in Los Angeles gestorben.

SPIEGEL: Was geschah, als die Nazis dieses Lager auflösten?

Klüger: Wir mussten zusammen mit vielen anderen marschieren, marschieren, immer weiter. Ich war völlig geschwächt und ausgehungert. Am zweiten Abend schon sind wir dann weggelaufen, sechs Personen. Drei davon waren Tschechinnen, und die waren natürlich nahe an der Grenze und haben gedacht, sie werden sich da durchschlagen. Und wir drei, Susi, meine Mutter und ich, wir wollten zu den Russen rüber. Das ist uns aber nicht gelungen. Man konnte nicht über die Front. Schließlich haben wir uns als deutsche Flüchtlinge ausgegeben und sind, mit einem Transport, mit dem Zug nach Bayern gekommen.

SPIEGEL: War das nicht ein großes Risiko? Sahen die Menschen alle so elend aus wie Sie?

Klüger: Ich glaube, in diesen Zeiten, als alle auf der Straße waren, hat man die Leute nicht so genau angeschaut. Aber man hat natürlich auch Glück gehabt. Einmal sind wir erkannt worden, wurden dann auch verhaftet, aber der Polizist wusste nicht genau, was er mit uns anfangen sollte. Sein Vorgesetzter war nicht da, und die Russen haben hinten geballert, und so hat er uns laufen lassen. Ich sage Ihnen: Zufälle.

SPIEGEL: Können Sie sich noch an den Tag erinnern, als der Krieg zu Ende war?

Klüger: Ja, für mich war der Krieg im April zu Ende. Wir sind nach Straubing gekommen, und die Amerikaner waren schon da. Plötzlich sehen wir einen Militärpolizisten an der Ecke, der den Verkehr regelte. Und meine Mutter ging auf ihn zu und sagte, dass wir aus einem KZ entkommen wären. Und der hat sich nur umgedreht und die Hände an die Ohren getan und so was gesagt wie: "Schon wieder welche. Ich habe doch schon genug von denen."

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