Schweizer EM-Unlust Miese Kicks, fade Fans, böse Bälle

Stell Dir vor, es ist EM, und keinen interessiert's: Kurz vor Beginn des Turniers ist die Schweiz alles andere als euphorisiert. Schlagzeilen machen Skurrilitäten am Rande - Kleinkriege um Fanmeilen und Fußbälle aus Kinderarbeit.
Von Christoph Höhtker

Fußball ist ein Sport, bei dem gelegentlich Gefühle frei werden - je wichtiger der Anlass und je größer die Bühne, desto intensiver. Dieser Logik mögen auch jene Kreativen gefolgt sein, die für die Euro 2008 in der Schweiz und Österreich das offizielle Motto "Expect Emotions" erschaffen haben.

Im Gastgeberland Schweiz wird der vielversprechende Slogan allerdings immer häufiger mit einer lapidaren Frage gekontert: Emotionen - wo denn?

18 Tage vor Anpfiff des ersten Spiels ist im Land der Eidgenossen von steigender Spannung oder gar Begeisterung wenig zu spüren.

Ernüchterndes ergab jüngst auch eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Isopublic für die Zürcher "SonntagsZeitung": Am bedeutsamsten Sportereignis, das jemals auf Schweizer Boden durchgeführt wurde, bekundeten lediglich 41 Prozent der Befragten höfliches Interesse. Selbst diese Minderheit plant in ihrer überwältigenden Mehrheit (88 Prozent), die Spiele in der trauten Umgebung der heimischen Wohnstube zu verfolgen. Schlechte Aussichten also für Massenekstasen und rot-weiße Fahnenmeere vor Public-Viewing-Leinwänden.

Abgesehen von den Defiziten im Segment Hormonausschüttung, vielleicht auch abgesehen von der eigenen Nationalmannschaft, geht die Schweiz jedoch erwartungsgemäß perfekt vorbereitet ins Turnier. Die Stadien sind ausgebaut, innerstädtische Freilichtgehege, Fanmeilen genannt, sind hergerichtet und im Falle der Landeshauptstadt Bern sogar mit einem ökologisch wertvollen Mehrwertkonzept versehen.

Auch die Geschäftswelt ließ sich nicht lumpen und zeigt der Bevölkerung nun tagtäglich, was Idealismus und Fußballbegeisterung bewirken können: Die Schaufenster sämtlicher Bankfilialen sind mit Motiven aus dem Balltreteruniversum bestückt. Es wimmelt nur so von offiziellen Sponsoren und Unterstützern; optimistisch lächeln Schweizer Fußballgrößen sowie anderweitig relevante Alpenländler von Werbeplakaten herab.

Die Merchandising-Maschine läuft auf Hochtouren, die Tourismusbranche gibt alles, und selbst das elegante Genf schreckte nicht davor zurück, sein Wahrzeichen, die traditionsreiche Wasserfontäne "Jet d'Eau", mit einem riesigen Fußball zu verunzieren.

Allein, geholfen hat das alles nichts.

Intensives Medientrommelfeuer, sinkendes EM-Interesse

Der Schweizer Normalbürger bleibt mehrheitlich distanziert, und nichts, kein noch so ausgeklügeltes Animationskonzept scheint ihn aus der Reserve zu locken. Es ist ruhig im Land, aber es herrscht keinesfalls die Ruhe vor dem Sturm, sondern geschäftsmäßige Normalität.

Fast könnte man meinen, eine omnipräsente Besatzungsmacht namens Uefa habe das Land mit ihren Symbolen und Ritualen überschwemmt, während die Bevölkerung nur in Notfällen kollaboriert - das Geschehen ansonsten aber fast subversiv ignoriert.

Trotz eines sich stetig intensivierenden Medientrommelfeuers ist das Interesse an der Europameisterschaft in den vergangenen Monaten sogar noch gesunken.

Als mögliche Ursache führen Meinungsforscher vor allem die deprimierenden Vorbereitungsspiele des Schweizer Teams an. Außerdem habe das umtriebige Geschäftsgebaren des europäischen Fußballverbandes für Irritationen gesorgt.

Überhaupt, im Gegensatz zum eigentlichen Sportereignis werden Negativmeldungen und skurrile Randaspekte des Spektakels durchaus mit Leidenschaft diskutiert.

Unmut erregte zum Beispiel der Fall jener Basler Wirte, die von der Uefa zum Errichten eines Sichtschutzes gezwungen wurden, um ihre Grundstücke von der angrenzenden Fanzone abzuriegeln. Der Grund: Man schenkt ein anderes als das offizielle EM-Bier aus.

Gratisfußbälle für Hungerlohn, von Kinderhänden genäht

Beachtung fand auch die Werbeaktion der Großbank Crédit Suisse, die das Volk mit 200.000 Fußbällen beglückte - diese aber Fernsehberichten zufolge offenbar von pakistanischen Kinderhänden zu Hungerlöhnen hatte zusammennähen lassen. Kleinlaut gab das Institut zu, eine "Mitarbeit von Kindern" könne nicht ausgeschlossen werden.

In Zürich verfolgt man derweil gebannt den seit Wochen tobenden Kleinkrieg zwischen Stadtverwaltung und Gewerbetreibenden aus dem noblen Stadtteil Seefeld, die das in der Nähe befindliche Fanareal am liebsten ganz verbieten lassen würden.

Solche Meldungen halten den Durchschnittseidgenossen davon ab, sich unbeschwert auf das bevorstehende Mega-Event zu freuen.

Im Gegenteil, zur EM einfallende Polizeiheere - Deutschland stellt das Hauptkontingent - oder zu erwartende Ungenauigkeiten im gewöhnlich hochpräzisen Schweizer Alltagsleben provozieren mancherorts regelrecht Verdrossenheit.

Die links-alternative "Wochenzeitung" sprach daher mit Sicherheit nicht nur ihrer Stammklientel aus dem Herzen, als sie einen EM-kritischen Artikel knackig mit "Der Juni des Grauens" überschrieb.

Lockerheit per Fanmeilenorgie hat man nicht nötig

Auf der anderen Seite erzeugt der eidgenössische EM-Missmut durchaus auch Frohsinn. In der Schweiz ansässige Deutsche zum Beispiel, die traditionell mit Kosovo-Albanern um den letzten Platz auf der Beliebtheitsskala konkurrieren, wittern die lang ersehnte Chance, es der Gastgebernation heimzuzahlen.

Hämisch wird der Schweiz bereits jetzt die EM-Tauglichkeit abgesprochen. Stolz erinnert man an die Atmosphäre während der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland. In der Tat befanden sich damals Straßen und Plätze wochenlang in Händen eines entfesselten Party-Mobs. Millionen in schwarz-rot-goldene Kleidungsreste gehüllte Feiernde bewiesen der Welt mit eiserner Disziplin, wie unerbittlich entspannt Teutonen mittlerweile geworden sind.

Von jenen Bildern, die sich wunschgemäß in die kollektive Psyche der Völkergemeinschaft einbrannten, ist die Schweiz noch sehr weit entfernt. Im Gegensatz zu den Deutschen scheint man keinerlei Drang zur Selbstdarstellung zu verspüren.

Die Schweizer Begeisterungsresistenz, die laut Umfrage vor allem eine der Frauen ist, lässt sich deswegen auch als Souveränität begreifen. Man hat es einfach nicht nötig, anderen per Fanmeilenorgie die Botschaft von der eigenen Lockerheit einzuhämmern, lautet die wohlwollende Interpretation.

Feiern, um vorlauten Deutschen das Feiern zu vermiesen

Ausgeschlossen sind öffentliche Jubelszenen in kommenden Juni dennoch nicht. Szenarien sind denkbar, die selbst reservierteste Eidgenossen weg vom Flachbildschirm und hinaus auf die Straße zwingen: Ein unerwartetes Unentschieden der "Nati" vielleicht (so nennen Schweizer ihre Nationalmannschaft), ein Überstehen der Vorrunde gar. Oder man geht einfach nur feiern, um vorlauten Deutschen das Feiern zu vermiesen.

Außerdem wird die Aussagekraft von demoskopischen Stimmungsbarometern durchaus nicht von jedem anerkannt. Benedikt Weibel beispielsweise, der oberste EM-Beauftragte der Schweizer Bundesregierung, lässt sich von den betrüblichen Umfragewerten nicht aus der Ruhe bringen. "Entscheidend für das Gelingen der Euro ist die allgemeine Befindlichkeit ab dem 7. Juni", sagt der patentierte Bergführer und ehemalige Chef der Schweizer Bahn.

Weibel spekuliert dabei insgeheim auf eine Eigenschaft, die bei seinen Landsleuten noch viel tiefer verwurzelt ist als Bescheidenheit und Orgienabstinenz: die legendäre Schweizer Pünktlichkeit. Es geht los - wenn's so weit ist.

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