Sex, Geld und Gewalt: Die fragwürdige Geschichte von Aladdin

Dieser Beitrag wurde am 23.05.2019 auf bento.de veröffentlicht.

In dieser Woche startet Disneys "Aladdin"-Remake in den Kinos. Der unterscheidet sich vom Zeichentrick-Klassiker nicht nur durch Darsteller aus Fleisch und Blut. Er macht auch vieles besser als sein Vorgänger von 1992, der für seine klischeebeladene Darstellung des Nahen Ostens kritisiert wurde. (bento)

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Disneys neuer "Aladdin" kommt stattdessen als Empowerment-Story daher. Mit Palastwachen, die Gehorsam und Gerechtigkeit gegeneinander abwägen. Mit einer selbstbewussten Prinzessin Jasmin und mit einem diversen Cast. 

Wie groß Aladdins Emanzipation allerdings wirklich ist, merkt man erst, wenn man die Originalgeschichte kennt.

Mit der hat der neue Disney-Aladdin überhaupt nichts mehr zu tun - zum Glück!

"Aladin und die Wunderlampe" wurde 1712 vom französischen Orientalisten Antoine Galland veröffentlicht, als Teil der Märchensammlung "Les Mille et Une Nuits" (Tausendundeine Nacht). Aladdin ist darin kein charismatischer Straßenräuber, sondern ein schwer erziehbarer Herumtreiber. Seiner armen, verwitweten Mutter macht er nur Ärger.

Da kommt das Angebot eines angeblichen Onkels sehr gelegen, den Neffen unter seine Fittiche (eine Höhle) zu nehmen. In Wahrheit handelt es sich allerdings um einen bösen Zauberer, der mit Aladdins Hilfe an eine Wunderlampe kommen will.

Aladdin befreit sich, kehrt zu seiner Mutter zurück, putzt die Lampe, die Wunder beginnen und mit ihnen:

Aladdins Verwandlung vom schwer erziehbaren Herumtreiber zum lüsternen Spanner.

Disney-Fans dürfte die Geschichte so weit bekannt vorkommen. Im Film lernen sich im Folgenden Aladdin und Jasmin auf einer abenteuerlichen Flucht vor Markthändlern und Palastwächtern kennen – und lieben.

Der literarische Aladdin entpuppt sich dagegen als lüsterner Spanner. Das erste Treffen mit seiner designierten Prinzessin würde heute einen Shitstorm auslösen. Nach einem ersten gescheiterten Versuch, aus dem Fenster eines Bekannten einen Blick auf die badende Prinzessin Badrulbudur (Jasmins literarisches Vorbild) zu werfen, liest sich das erste Aufeinandertreffen der Beiden so:

  • "Aladdin durfte nicht lange warten; die Prinzessin erschien, und er betrachtete sie durch einen Riß, welcher groß genug war, um sie in Augenschein zu nehmen, ohne selber gesehen zu werden. (…) Sobald Aladdin die Prinzessin Badrulbudur gesehen hatte, so gab er seine bisherige Meinung auf, als glichen alle Frauen mehr oder weniger seiner Mutter; seine ganzen Gefühle wurden plötzlich umgewandelt, und sein Herz konnte dem reizenden Mädchen seine höchste Zuneigung nicht versagen."

Aladdin schwärmt eine Nacht lang von Badrulbudurs körperlichen Vorzügen, bis er am nächsten Morgen beschließt, sie zu heiraten. In Disneys Version überwindet Aladdin an dieser Stelle mutig die Palastwachen, um sich persönlich Prinzessin Jasmin vorzustellen. Der Aladdin aus "Tausendundeiner Nacht" wählt einen weniger direkten Weg: Er bittet seine Mutter, beim Sultan vorstellig zu werden, um die Hochzeit zu arrangieren.

Psychoterror, Entführungen und Vergewaltigung: Wie Aladdin die Ehe der Prinzessin scheitern lässt.

Von ihrem "Glück" ahnt Badrulbudur bis dahin nichts. Wie in Disneys Version will der Sultan auch in "Tausenduneiner Nacht" seine Tochter verheiraten. Mit einem Unterschied: Badrulbudur hat ihren Ehemann längst gefunden, den Sohn des Großwesirs. Nicht erschrecken! Der ist in der Buchvorlage ein belangsoser Typ. Erst Disney hat Groswesir und Zauberer zum Oberschurken Jafar vereint.

Aladdin ist jetzt emotional und auch moralisch am Tiefpunkt der Geschichte angelangt. In der Hochzeitsnacht schickt er kurzerhand seinen Flaschengeist ins Schlafzimmer des Paares und lässt beide aus dem Ehebett in seine Hütte entführen. Den verängstigten Sohn des Großwesirs sperrt er in eine dunkle Kammer. Dann zieht Aladdin sich aus und legt sich neben die schockierte Prinzessin. Ihre erste gemeinsame Nacht erleben Aladdin und Badrulbudur so:

  • "Voll Zufriedenheit darüber, daß er seinen Nebenbuhler so des Glücks beraubt hatte, das er diese Nacht zu genießen gehofft, schlief Aladdin ganz ruhig ein. Nicht so war es mit der Prinzessin Badrulbudur der Fall. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch keine Nacht so traurig und unangenehm zugebracht als diese."

Am Morgen danach zaubert Aladdin das verängstigte Ehepaar wieder zurück in den Sultanspalast – und wiederholt die Tortur an den darauffolgenden Tagen noch weitere drei Mal. Nach vier Nächten voller Kälte, Angst und Psychoterror ist Aladdin am Ziel: Das traumatisierte Paar entscheidet sich gegen Liebe und Ehre und bittet ihre Eltern um die Scheidung.

Mit Edelstein, Gold und Sklaven: Wie Aladdin seine Prinzessin gewinnt.

Aladdins Mutter trägt (dank Flaschengeist!) unterdessen immer mehr Gold- und Edelsteingeschenke in den Palast, um den Sultan von ihrem Sohn zu überzeugen. Der zweifelt am neureichen Emporkömmling und versucht, die Mutter mit absurden Brautgeld-Forderungen abzuwimmeln. Neben Unmengen Gold verlangt er auch 80 Sklaven.

Aladdin reibt einfach noch einmal an der Lampe (die Drei-Wunsch-Regel gibt es noch nicht), um sich in einen Prinzen, inklusive geforderter Entourage, zu verwandeln. Auch Disney-Fans kennen diese Verwandlung. Doch während Aladdins Auftritt als Fake-Prinz in Disneys Version eher an einen egalitären brasilianischen Karnevalsumzug erinnert, imponiert der Original-Aladdin mit einem gigantischen Sklavenaufmarsch:

  • "Ohne erst die Antwort seiner Mutter abzuwarten, öffnete Aladdin die Tür nach der Straße und ließ alle seine Sklaven paarweise nacheinander, immer einen weißen und einen schwarzen Sklaven mit einem goldenen Becken auf dem Kopfe und so fort bis zum letzten, hindurchgehen."

Der Rest ist Formsache. Der Sultan vermacht Aladdin seine Tochter. Beide schwelgen in Luxus. Die Superlative reihen sich aneinander ( vom "Teuersten", "Edelsten" und "Schönsten"). Allein die Beschreibung vom neu errichteten Wohnsitz des Paares nimmt mehrere Seiten ein.

Sex, Drogen und Gewalt: Wie Aladdin den Bösewicht besiegt

Wer bei alldem auf einen moralischen Twist wartet, wird enttäuscht: Es gibt keinen. Die Disney-Autoren nutzen das Sinnbild der Wunderlampe, um eine Geschichte über die Versuchungen von Macht und Besitz zu erzählen, an deren Ende schließlich der gewinnt, der sich selbst treu bleibt. Der Oberbösewicht wird zwar besiegt – aber durch List, nicht durch Gewalt.

Diese Cleverness besitzt der Ur-Aladdin eher nicht. Als es zum letzten Schlagabtausch mit dem Zauberer kommt, greift er zum Altbewährten: Sex, Drogen und Gewalt. Er überredet die wenig begeisterte Prinzessin Badrulbudur, den Zauberer zu verführen und ihm eine Art KO-Tropfen in den Drink zu mischen. Seinen verunstalteten Leichnam lässt er Tieren zum Fraß vorwerfen. Es folgt eine Episode, in der Aladdin den Bruder des Zauberers ersticht (kann man als Notwehr durchgehen lassen) und alle leben glücklich und reich bis an ihr Lebensende.

Aladdin ist das, was wir daraus machen.

Wer nun empört auf Twitter zum Aladdin-Boykott aufrufen möchte, dem sei gesagt: Einen historischen Ur-Aladdin gibt es gar nicht. Aladdin ist und war immer ein Produkt seiner Zeit. 

In früheren Manuskripten von kommt Aladdin gar nicht vor. Der Orientalist Antoine Galland fügte die Geschichte in seiner Übersetzung von "1001 Nacht" 1712 kurzerhand selbst hinzu. Dabei bediente er sich mündlicher Überlieferungen aus der arabischen Welt und seiner französischen Landsleute.

Die Geschichte reflektierte also die Orient-Sehnsucht des europäischen Publikums. Die galt nicht dem Protagonisten, sondern der Welt, in der sich ein einfacher junger Mann alle materiellen und erotischen Träume erfüllen konnte.

Seit 300 Jahren wird die Geschichte von Aladdin und seiner Wunderlampe immer wieder neu erfunden. Wenn sie nun für einen Film herhalten muss, in der am Ende erstmals [Achtung Spoiler] die Prinzessin den Thron besteigt, dann ist das nicht nur eine bessere Geschichte, es verrät auch viel über unsere Realität im Jahr 2019.

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