Ich erlebe Sexismus aus zwei Perspektiven – als Frau und als Mann
Dieser Beitrag wurde am 05.02.2018 auf bento.de veröffentlicht.
Ich verwende zwei Vornamen, einen Männer- und einen Frauennamen. Im Pass steht der, den meine Eltern für mich ausgesucht haben, als sie wussten, wie mein Körper später aussehen wird. Der andere Name passt zu dem, wie ich lebe, denke und handle. Die meisten Freunde nennen mich so. Beide Namen gehören zu mir und ermöglichen mir, als Mann und als Frau zu leben – ohne die unsichtbaren Identitätsgrenzen, von denen niemand weiß, wer sie aufgestellt hat und die doch die meisten akzeptieren.
Es ist 2018! Nur: Die Probleme und Risiken, die zum Leben in einem bestimmten Geschlecht gehören, sind es nicht. Noch immer hängt von unserem Geschlecht ab, welche Erfahrungen wir machen:
Gehe ich im Kleid und Ohrringen raus, bleibt im Bus kaum Platz für mich, weil niemand zurückweicht – und jeder lächelt mir zu. Trage ich dagegen eine Bomberjacke und Mütze, rücken Mütter ihre Kinderwagen von mir weg.
Ich vergesse nie diesen Moment, als sich nachts in einer dunklen Unterführung eine Frau nach mir umdrehte und fragte: "Wissen Sie, wie spät es ist?" Es ist eine dieser Fragen, die Frauen in Selbsthilfetrainings lernen, mit denen sie Männer in ein Gespräch verwickeln sollen, wenn sie sich fürchten – weil jemand, mit dem man spricht, weniger bedrohlich wirkt. Und weil es immer gut ist, als Mensch wahrgenommen zu werden und nicht als Objekt.
Ich habe mich geschämt, mich geekelt, vor diesem Verdacht und automatisch auch vor mir selbst, mich ertappt gefühlt bei etwas, das ich weder begangen noch im Sinn hatte. Mich schuldig gefühlt – einfach, weil ich ein Mann bin. Immerhin hatte sich gerade eine Frau von mir bedroht gefühlt.
Damals habe ich mich entschieden, mitzuspielen. Das Handy gezogen, die Uhrzeit vorgelesen und beim Warten auf den Bus mit ihr geredet.
Genauso wenig vergesse ich die Busfahrt durchs Nirgendwo, auf der ich bei einer ziemlich beschwipsten feiernden Gruppe zu sitzen kam und mich so lange auf ihre Witze einließ, bis einer der Männer mich anfasste. Ich habe ihn angeschrien, er solle mich in Ruhe lassen. Danach brach die Stimmung rapide ein. Der Betrunkene beschimpfte mich abwechselnd als prüde und Schlampe, die anderen beschwerten sich, ich hätte ihnen die Laune verdorben.
Unnötig zu sagen, dass der Busfahrer mich nicht in Schutz nahm. Ich habe ihm später viel Geld dafür gegeben, dass er mich nicht im Nirgendwo entlang der Landstraße zum Aussteigen zwang.
Auch in diesem Moment habe ich mich geschämt, mich geekelt vor den Anschuldigungen und automatisch auch vor mir selbst, mich verurteilt gefühlt wegen etwas, das ich weder getan noch im Sinn hatte: die sexuelle Aufmerksamkeit eines betrunkenen Mannes auf mich zu ziehen. Mich schuldig gefühlt – einfach, weil ich eine Frau bin.
Oft genug waren die Perspektiven auch vertauscht: Momente, in denen ich mich als Frau gefragt habe, ob Vorgesetzte nicht zu viel riskieren, wenn sie mit mir allein in einem Besprechungsraum sind.
In denen ich mich als Mann gefragt habe, ob es ein Fehler war, meiner Kollegin ein Kompliment für ihr Kleid zu machen – auch wenn damit das Muster und nicht ihr Körper darin gemeint war.
In denen ich mich gewundert habe, warum in Frauenzeitschriften Sätze wie "Nehmen Sie sich im Bett, was Sie wollen!" aufregend klingen und in Männerzeitschriften widerlich.
Lass uns Freunde werden!
Solche Erlebnisse haben mich sensibel gemacht für Situationen, in denen unser Geschlecht nicht egal ist. In denen es zur Erklärung gemacht wird für etwas, das in Wahrheit gar nichts damit, sondern nur mit Machtverhältnissen zu tun hat.
Jede dieser Situationen aus beiden Blickwinkeln zu kennen führt dazu, dass ich in keiner Perspektive mehr völlig unbefangen sein kann. Die #MeToo-Debatte findet mitten in meinem Kopf statt, jeden Tag.
Das ist anstrengend – aber lehrreich. Ich habe gelernt, wie widerstandsfähig Frauen sein müssen und wie standhaft die sind, die sich davon nicht einschränken lassen. Wie wichtig es ist, als Mann Weitblick und Beherrschung zu entwickeln, obwohl es die Gesellschaft einem so leicht macht, sich nicht zu hinterfragen.
Ein Nein gilt, Punkt. Aber es muss ausgesprochen werden. Ein Ja gilt, Punkt. Aber es darf nicht als ordinär abgewertet werden.
Kaum zu glauben, dass Männer wie Frauen das im Jahr 2018 erst lernen müssen: Ihre Absichten klar zu kommunizieren, egal wie überflüssig das ihnen erscheint – und die Signale der anderen lesen zu lernen, egal wie undeutlich sie ihnen erscheinen. Dann macht es eines Tages wirklich keinen Unterschied mehr für unsere Sicherheit, in welchem Geschlecht wir leben. Und in meinem Kopf kehrt Entspannung ein.