KLIMA Sirenen des Weltgewissens
Es war gegen zehn Uhr am Vormittag, als Rajendra Pachauri in Brüssel, im Foyer eines Konferenzgebäudes der Europäischen Union, auf einen Stuhl stieg und sich den Kameras und Mikrofonen zuwandte. Er gab eine improvisierte Pressekonferenz, es war eine ungewohnte Situation für den Chef des Weltklimarats, der größten wissenschaftlichen Kommission der Erde. Normalerweise steigt Pachauri auf Podien, nicht auf Stühle, um die Öffentlichkeit über den Fortgang seiner Arbeit, über den Zustand der Welt zu informieren.
Pachauri hob die Hände und bat die Journalisten um Geduld, es werde noch ein wenig Zeit in Anspruch nehmen, bis die Arbeitsgruppe des Weltklimaberichts ihre Ergebnisse präsentieren könne. Die Diskussion daure noch an. Pachauri konnte noch nicht sagen, was mit der Welt wird.
Die Diskussion fand statt im großen Konferenzsaal im dritten Stock. Hinter verschlossenen Türen stritten Politiker aus über 130 Ländern mit den Autoren des Werks über den genauen Wortlaut eines schmalen 23-seitigen Dokuments.
Das Dokument, im Uno-Jargon SPM genannt, Summary for Policymakers, übersetzt: Zusammenfassung für Politiker, bietet die Essenz des eigentlichen Klimaberichts, eines wissenschaftlichen Kompendiums, geteilt in drei Bände, jeder gut tausend Seiten stark. In Brüssel wurde die Zusammenfassung des zweiten Bands verhandelt, und es war wie immer ein mühseliger Prozess, denn in dem Saal im dritten Stock debattierten zwei Gruppen, die außer dem Zwang zum Konsens nicht viel vereinte.
Auf der einen Seite standen die Autoren des Berichts, allesamt Wissenschaftler, die in den vergangenen drei Jahren kaum etwas anderes getan hatten, als an diesem Werk zu arbeiten, und für viele unter ihnen war es schon eine Zumutung, den Inhalt von über tausend Seiten in 23 zu pressen.
Auf der anderen Seite standen Politiker, Delegationen aus fast allen Ländern der Erde. Sie saßen in alphabetischer Reihenfolge im Plenum, sie wollten den Bericht anpassen, an ihre Wirtschaftspolitik, ihre Umwelt-, ihre Außenpolitik. In der ersten Reihe, ganz links, saß Afghanistan, dann folgten Albanien, Algerien.
Bestimmt wurde die Debatte von den Delegationen der Industriestaaten. Vor allem von den USA, die wie so oft die größte Delegation entsandt hatten. Kaum kleiner war die Delegation Saudi-Arabiens, die an der Seite der USA stritt, wo auch die Australier und die Chinesen zu finden waren.
Ihre Gegner waren die Autoren des Berichts, unterstützt durch die Delegationen aus den Staaten der Kern-EU plus Großbritannien, die sich kollektiv empörten, wenn die US-Delegation mal wieder forderte, ein klares »wird geschehen« zu verwandeln in ein unklares »wird voraussichtlich geschehen«. Allein diesen Antrag stellte die US-Delegation über hundertmal. Das war möglich, weil die Regeln des Weltklimarats vorsehen, die Zusammenfassung Zeile für Zeile, Wort für Wort zu verhandeln, denn jedes Wort wiegt schwer. Es gibt kein anderes Dokument, das so viel Einfluss auf die globale Umwelt- und Industriepolitik hat.
Der Weltklimarat ist ein wissenschaftliches Dienstleistungsgremium, geschaffen von der Uno-Umweltbehörde und der Meteorologischen Organisation der Uno, und alle fünf, sechs Jahre fasst er den aktuellen Forschungsstand zum Klimawandel zusammen. Das Budget des Rats ist minimal, fünf Millionen Euro im Jahr. Um seine Aufgabe erfüllen zu können, ist er auf die Hilfe der Uno-Mitgliedstaaten angewiesen. Sie finanzieren die Konferenzen, sie stellen die Wissenschaftler frei, die als Autoren für den Inhalt einzelner Kapitel verantwortlich sind.
Die Zentrale des Rats ist in Genf, doch hier finden sich nur ein paar gläserne Büros in einem Flur. Die eigentliche Arbeit, das Sichten, Bewerten und Zusammenfassen der Studien, geschieht in den Forschungszentren, den Instituten, den Universitäten der Welt. Der Weltklimarat ist eine sehr dezentralisierte und eine sehr typische Uno-Organisation. Seine Führungsposi- tionen werden in den Fluren und Sälen der Vereinten Nationen, dieses politischen Basars, vergeben. Zurzeit sitzen im Führungsgremium des Rats ein Inder, das ist Pachauri, ein Russe, ein Kenianer und ein Forscher aus Sri Lanka. Von Anfang an war die Beteiligung der Regierungen an den Berichten Teil des Verfahrens. Die Gründungsorganisationen des Klimarats wollten verhindern, dass die Regierungen die Berichte nur als Notizpapier benutzen. Die Politiker wollten den Inhalt der Berichte nicht nur den Wissenschaftlern überlassen.
In Brüssel zerfiel das Plenum unmittelbar nach dem Beginn der Verhandlungen in die Koalition der Unwilligen unter US-Führung und die Koalition der Willigen, bestehend aus den Autoren, unterstützt vom alten Europa. Der große Rest schwieg meist.
Die Abgesandten der USA benutzten eine klassische Taktik, um möglichst viele ihrer Forderungen durchzusetzen, eine Taktik, die sich nicht nur in der Uno-Diplomatie bewährt hat, sondern auch in Wohngemeinschaften und bei Ehestreitigkeiten. Die Amerikaner redeten einfach so lange, verweigerten sich Kompromissen so hartnäckig und stellten immer neue Forderungen, bis der Gegner mürbe war, müde, und einlenkte.
So war es auch Anfang Februar in Paris geschehen, wo die Zusammenfassung zum ersten Band verhandelt worden war, wo es um die Frage ging, welchen Anteil der Mensch am Klimawandel hat. Und so wird es wohl auch in dieser Woche in Bangkok sein, wo um den Inhalt der dritten Zusammenfassung gestritten wird, um die Frage,
was der Mensch tun kann gegen den Klimawandel.
Um 12 Uhr am Karfreitag, nach 22-stündigem Verhandlungsmarathon, trat Rajendra Pachauri dann vor die Presse, auf einem Podium diesmal, und ließ Kollegen referieren, was im Saal vereinbart worden war. Es ging um die Folgen des Klimawandels, sie werden im zweiten Band benannt.
So erfuhr die Welt, dass 20 bis 30 Prozent aller bekannten Arten aussterben könnten, wenn die Erwärmung, gemessen von 1850 bis zum Ende des 21. Jahrhunderts, mehr als zwei Grad überschreiten sollte. Die Welt erfuhr, dass Wassermangel drohe ebenso wie häufigere Überschwemmungen, dass die Nahrungsmittelproduktion abfallen werde, sollte die Erwärmung drei Grad übersteigen.
Pachauri hörte zu, sein Anzug war zerknittert, er war müde, er wusste, was passieren würde nach der Pressekonferenz. Die Sätze würden Wellen schlagen, große Wellen, in wenigen Stunden würden sie fast jeden Winkel der Erde erreichen.
»Bild« titelte am nächsten Tag: »Klimabericht schockt Deutschland«. Der britische »Independent« meldete: »Die Menschheit wird geteilt«. Das US-Nachrichtenmagazin »Time« klagte: »Unser fiebernder Planet braucht Hilfe«. Die Welt war in Panik geraten, wie nach einem großen Terroranschlag.
Rajendra Pachauri konnte zufrieden sein, nicht nur über die Reaktion der Medien. Die Wissenschaftler hatten, unterstützt von ihren Alliierten aus Europa, die meisten Angriffe der Koalition der Unwilligen abgewehrt. Es hatte Zugeständnisse gegeben, aber sie waren eher symbolischer Art, denn die Spielregeln des Weltklimarats sehen vor, dass die Politiker wissenschaftliche Argumente vorbringen müssen, um Änderungen durchzusetzen. Die Wissenschaftler haben in diesem Spiel gewissermaßen Heimvorteil.
Pachauri ist über diese Regelung sehr glücklich, sein Problem sind die Kritiker, die nicht an diese Regeln gebunden sind, die Außenstehenden. Pachauri nennt sie Skeptiker, und wenn er dieses Wort ausspricht, zuckt er ein wenig mit den Schultern, als wolle er eine Fliege verscheuchen. Dann sagt er: »Die wird es immer geben.«
Pachauri sitzt jetzt in seinem Hotelzimmer in Brüssel, es ist ein überraschend einfacher Raum für jemanden, der in der Uno-Hierarchie so weit oben steht, und auch die Tatsache, dass er sich überhaupt hier interviewen lässt und nicht in einem eigens angemieteten Konferenzraum, deutet darauf hin, dass er ein Mensch ist, dem seine Stellung nicht zu Kopf gestiegen ist. Pachauri ist Ökonom. Wenn Mitarbeiter ihn beschreiben, erwähnen sie seinen Bart, die quer über den Kopf gekämmten Haare, sein diplomatisches Geschick.
In seinem Heimatland leitet Pachauri ein Institut, das über 700 Mitarbeiter beschäftigt und sich der Nachhaltigkeit verpflichtet sieht. Pachauri war Mitarbeiter der Weltbank, Berater für das Uno-Umweltprogramm Unep, er doziert in den USA. Er gehört zum humanitären Jetset seines Kontinents.
2002 wurde er Chef des Weltklimarats, man wählte ihn auf Vorschlag der USA. Die Bush-Regierung wollte eigentlich einen Bremser, fand aber keinen, der durchsetzbar war, und so brachte sie Pachauri ins Spiel. Er stand im Ruf, bedächtig zu sein.
Das war eine Fehleinschätzung. Vor einer Weile hat Pachauri einen Kritiker des Weltklimarats mit Hitler verglichen, weil der Mann öffentlich darüber nachgedacht hatte, ob es nicht vernünftiger sei, die Bewohner der vom steigenden Meeresspiegel bedrohten Pazifikatolle zu entschädigen und umzusiedeln, anstatt zu versuchen, den Meeresspiegel halbwegs konstant zu halten.
Die Skeptiker begleiten Pachauri seit seinem Amtsantritt, und er ist bemüht, ihre Bedeutung kleinzureden. Am liebsten redet er gar nicht über diese Leute. Doch die globale Grundsatzdebatte, die der Weltklimarat mit seinem Bericht, seinen Analysen und Prognosen entfacht hat, beschert auch ihnen eine Menge Aufmerksamkeit.
Ist der Klimawandel wirklich menschengemacht? Sind die Argumente der Wissenschaftler überzeugend? Gibt es nicht andere Wissenschaftler, die ganz anderer Meinung sind? Und dieser Weltklimarat, ist das nicht eher eine Versammlung von Polit-Aktivisten, von Öko-Fundamentalisten, die ihre Forschungsergebnisse hochrüsten, um die ganze Menschheit in Bahnfahrer und Car-Sharer zu verwandeln?
Dies sind die Fragen der Skeptiker, und sie werden in ernstzunehmenden Medien debattiert, in der »FAZ«, der »Welt«, im »heute journal«. Im Ausland, in den USA, diskutiert der Bestsellerautor und Skeptiker Michael Crichton mit Kollegen von Pachauri im Radio, im US-Fernsehen, in der Talkshow »Larry King Live«, stritten sich Experten über das wissenschaftliche Fundament, auf dem der Weltklimarat steht, in Großbritannien zeigte der Fernsehsender Channel 4 eine Dokumentation mit dem Titel »The Great Global Warming Swindle«.
In den Diskussionen geht es, unter anderem, um solche Dinge wie Klima-sensitivität, um Dansgaard-Oeschger-Ereignisse, um die Frage, ob ein globaler Temperaturanstieg von knapp 0,8 Grad Celsius in den vergangenen 100 Jahren viel ist oder wenig, ob der CO2-Anstieg dem Temperaturanstieg folgt oder umgekehrt.
Wer kann das entscheiden? Kein Laie kann das. Und die meisten Politiker können das auch nicht, denn auch sie sind wissenschaftliche Laien, auch sie haben keine Ahnung, was ein Dansgaard-Oeschger-Ereignis ist.
Es ist eine schwierige Situation. Man kann als Laie nur versuchen, die Argumente anzusehen, die man versteht. Und man kann versuchen herauszufinden, ob die anderen, die Kritiker, tatsächlich die besseren Argumente haben.
Die Galionsfigur der Skeptiker ist ein Mann namens Richard Lindzen. Immer wieder wird der Amerikaner als der Einzige bezeichnet, der im Kampf um die Vorherrschaft in der Klimadebatte in derselben Gewichtsklasse wie seine Gegner antreten kann, und zurzeit ist Lindzen viel unterwegs, er ist ein gefragter Mann.
Er sitzt auf der Terrasse eines Hotels in Venedig, links von ihm erhebt sich die Kuppel der Basilika San Marco, vor ihm liegt der Canal Grande. Lindzen fummelt eine Zigarettenschachtel aus seiner Tasche und zündet sich eine Marlboro an.
Er kommt direkt aus den USA, sein Flugzeug ist vor zwei Stunden gelandet, es hatte Verspätung, morgen geht es wieder zurück. Zwischen den beiden Flügen wird er italienischen Investoren erklären, was dieser Treibhauseffekt für sie und für ihr Geld bedeutet. Sie haben ihn gebeten, nicht länger als 20 Minuten zu reden.
Richard Lindzen ist Physiker, 67 Jahre alt, Professor am renommierten MIT, am Massachusetts Institute of Technology, sein Fachgebiet sind die physikalischen Prozesse, die in der Atmosphäre stattfinden und zum Wetter, zum Klima führen. Lindzen ist ein Theoretiker, und das sieht man ihm an. Sein Körper wirkt ein wenig in sich zusammengesunken, als würde er nicht wirklich gefordert, als wäre es seine Hauptaufgabe, den Kopf zu halten.
In seinen Reden, Artikeln, Studien räumt Lindzen ein, dass es den Klimawandel gibt, aber er sagt, dass es unklar sei, ob die bislang gemessene Erwärmung dramatisch zu nennen ist oder nicht. Er kritisiert die Modelle, mit denen der Klimawandel abgeschätzt wird, sie seien zu grob und deshalb unbrauchbar. Lindzen sagt auch, die Ergebnisse seiner Kontrahenten in der wissenschaftlichen Debatte beruhten auf willkürlichen Annahmen. Die SPM, die Kurzfassungen der Berichte für die Politiker, nennt er »alarmistisch«, den Ton der Debatte »hysterisch«. Er empfiehlt, dass sich die Menschheit um die wirklichen Probleme der Welt kümmern sollte: Kriege, Seuchen, Hunger.
Und möglicherweise hat Lindzen ja recht mit seiner Generalkritik, vielleicht ist seine Wissenschaft so dysfunktional, wie er behauptet, vielleicht will sie nicht informieren, sondern manipulieren. Die Welt, der Mensch, ist ja nicht nur gut. Aber wenn das so sein sollte, warum ist er dann der Einzige unter den ernstzunehmenden Kritikern, der sich so vehement empört? Lindzens Antwort: »Es kann mit Repressionen verbunden sein, sich gegen den Mainstream zu stellen.«
Es sieht allerdings nicht so aus, als habe Lindzen durch seine Kritik unter irgendwelchen Nachteilen zu leiden. Er ist immer noch Professor am MIT. Er forscht weiter. Publiziert weiter. Er ist umstritten, aber auch sehr bekannt. Er scheint eher Vorteile aus seiner Position zu ziehen. Italienische Geschäftsleute lassen ihn einfliegen. Die Medien umwerben ihn, fragen ihn nach seiner Meinung. Lindzen war der Skeptiker, der beim US-Talkmaster Larry King auftrat, was in den USA das Höchste ist für jeden, der Öffentlichkeit sucht.
Lindzens zweites Argument lautet: Der Forschungs- und Erkenntnisprozess der Wissenschaft sei verzerrt. Er sei nicht der Wahrheit verpflichtet, sondern vor allem der Opportunität. Dies verändere die Ergebnisse.
Was Lindzen sagt, klingt immer gut, aber es bleiben Behauptungen. Populärthesen, die einem transparenten globalen Prozess gegenüberstehen, einem weltumspannenden Plebiszit unter den Klimaforschern.
Die Arbeit an jedem Bericht beginnt damit, alle wissenschaftlichen Studien in allen relevanten Disziplinen zu sichten, zusammenzufassen, ihre Ergebnisse zu ordnen und dann einen ersten Entwurf zu schreiben. Diese Arbeit wird von den Mitarbeitern des Weltklimarats erledigt, und ihr Entwurf ist weltweit allen Wissenschaftlern zugänglich, sie sind eingeladen, ihn zu kommentieren und Änderungsvorschläge einzureichen. Jeder dieser Vorschläge wird erwogen, eingearbeitet oder auch nicht. Über ihre Entscheidungen müssen die Leitautoren der einzelnen Kapitel Buch führen, in endlosen Excel-Tabellen, die den Weg und das Schicksal jedes Kommentars belegen. Und sie müssen, wenn nötig, gegenüber den Kommentatoren Rechenschaft ablegen über ihre Entscheidungen.
Danach wird der nächste Entwurf gefertigt. Er geht an alle Regierungen, die ihn ebenfalls kommentieren können. Wieder werden die Änderungsvorschläge eingearbeitet oder auch nicht, auch hier besitzen die Wissenschaftler ihren Heimvorteil, auch hier wird das Schicksal jedes Vorschlags penibel festgehalten. Schließlich entsteht der letzte Entwurf, er liefert die Basis für das SPM, für die Zusammenfassung, deren Produktion so ähnlich verläuft wie die Produktion des eigentlichen Berichts und mit der Verhandlung zwischen Wissenschaftlern und Politikern endet.
Lindzens nächstes Argument lautet: Die Wissenschaftler übertrieben die Gefahren, weil sie nur so an ihre Forschungsgelder kämen, die zum überwiegenden Teil von ihrer Regierung überwiesen würden.
In der Geschichte der globalen Klimaforschung wurde das Forschungsbudget im Heimatland Lindzens, in den USA, bislang zweimal aufgebläht. Einmal während der Präsidentschaft von Bush Senior, einmal während der seines Sohnes. In beiden Fällen ging der Geldspritze ein Satz des Präsidenten voraus: Wir wissen zu wenig. Wenn die Klimaforscher also ihre Budgets sichern oder erweitern wollten, sollten sie nicht sagen: Wir sind zu mehr als 90 Prozent sicher, dass der überwiegende Teil des Klimawandels menschengemacht ist. Sie sollten sagen: Wir wissen zu wenig.
Ein Klimaforscher sagt genau das: Lindzen.
Lindzen kann argumentieren, dass die Modelle noch genauer werden müssen, andere, weniger kompetente Kritiker können verlangen, dass Details noch besser verstanden werden müssen. Das kann, das wird wohl auch geschehen, aber es ist so gut wie unmöglich, dass diese Veränderungen, diese Erkenntnisse die Kernaussage des aktuellen Weltklimaberichts ins Wanken bringen: Der Klimawandel ist da, er ist zum überwiegenden Teil menschengemacht.
So bleibt ein Argument von Lindzen übrig. Der Ton der Debatte, sagt er, sei hysterisch.
Und damit hat er recht.
Es gibt kaum einen Zeitungsartikel, kaum eine Sendung, die nicht die »Klimakatastrophe« beschwört, Überschwemmungen gigantischen Ausmaßes prophezeit, Dürre und Hunger. Das komplette apokalyptische Programm wird geliefert.
Es liegt an den Medien, natürlich, aber nicht nur. Es liegt auch an einem neuen Helden, an einem Umweltaktivisten, der sich mit dem Satz vorstellt: »Guten Tag, ich
war einmal der nächste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika.«
Al Gores Film »Eine unbequeme Wahrheit« ist eine Powerpoint-Präsentation, eine moderne Diashow über die Ursachen und Folgen des Klimawandels, er ist auch ein Weltuntergangsszenario, und sein dramatischer Höhepunkt zeigt, wie große Teile Floridas, wie San Francisco, Peking, Shanghai, die Niederlande, Bangladesch und New York inklusive des World Trade Center Memorials vom Meer verschluckt werden. Gore verwendet viel Zeit auf diese Sequenz, jede Region erscheint auf der Leinwand, und nacheinander verschwinden sie in der dunklen See.
Der Weltklimabericht geht davon aus, dass der Meeresspiegel bis zum Jahr 2100 um etwa 38,5 Zentimeter steigt. Das ist der Mittelwert aller Szenarien, die Steigerungen zwischen 18 und 59 Zentimeter prophezeien. Der Bericht sagt auch, dass der Meeresspiegel um mehrere Meter steigen könnte, wenn Grönland eisfrei werden sollte und auch die Westantarktis. Dieser Vorgang, wenn er denn eintritt, dürfte nach Schätzungen des Weltklimarats mehrere hundert Jahre, vielleicht auch Jahrtau-sende, dauern. Diese Zeitspanne unterschlägt Gore.
Er sagt einfach: »Wenn das Eis Grönlands schmilzt oder ins Meer rutscht oder wenn die Hälfte Grönlands eisfrei wird und die Hälfte der Westantarktis, dann wird der Meerespiegel um sieben Meter steigen.« Es klingt, als könne es morgen passieren.
Gore ist deswegen nicht unbedingt ein Vorwurf zu machen. Er ist Politiker. Aber es ist seltsam, wenn Rajendra Pachauri, der Vorsitzende des Weltklimarats, auf die Frage, was er von Gores Film halte, antwortet: »Er hat mir gefallen. Er emotionalisiert die Debatte zwar, aber das muss er wohl.« Und wenn Pachauri die Veröffentlichung des ersten SPM mit dem Satz kommentiert: »Ich hoffe, dass dies die Regierungen so schockiert, dass sie handeln«, nimmt einem das auch nicht die Zweifel an seiner Objektivität.
Fragt man Renate Christ, die Geschäftsführerin des Weltklimarats, nach ihrer Meinung zur Berichterstattung über den Klimawandel, dann nimmt sie Bezug auf Artikel, die von der »Klimakatastrophe« sprechen. Sie nennt diese Texte »recht erfrischend«.
Stefan Rahmstorf, Professor für die Physik der Ozeane am Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung, einer der ausgewiesenen Fachleute weltweit, Leitautor des aktuellen Berichts, lobt Gores Film vorbehaltlos, inklusive der Sequenz, in der New York versinkt. Und sein Chef, Hans Joachim Schellnhuber, er ist Leiter des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung und Berater der Bundesregierung, klang vor kurzem wie Al Gore selbst. Schellnhuber sagte in einem Interview: »Wir könnten bis 2100 einen Anstieg von einem Meter bekommen. Die erwartete klimabedingte Verlagerung der Meeresströmung könnte das Wasser in der Deutschen Bucht einen weiteren Meter ansteigen lassen.« Auch das klingt, als könne es morgen passieren. Das kann es aber nicht, und die Wahrscheinlichkeit, dass es überhaupt passiert, schätzt Schellnhubers Kollege Rahmstorf, der in der Regel den Extremszenarien zuneigt, auf zehn Prozent.
Es ist egal, wo man Funktionäre des Weltklimarats trifft, im Hauptquartier in Genf, in Brüssel während der Verhandlungen zum SPM oder in Potsdam, wo die deutschen Autoren zusammen mit dem Bundesumweltministerium einen Workshop zum Weltklimabericht veranstalten, überall reden sie nicht wie Wissenschaftler, sondern wie Umweltaktivisten. In Potsdam plädierte Michael Müller, SPD-Mitglied und Staatssekretär im Bundesumweltministerium, für eine energiepolitische Wende im globalen Maßstab, und der Ton seiner Ausführungen unterschied sich nicht von dem, den Pachauri, der Vorsitzende des Weltklimarats, in Brüssel anschlug. Spricht man die Klimawissenschaftler darauf an, antworten sie in der Regel: Und? Wo ist das Problem? Was ist schlimm daran, die Welt vor einer Katastrophe zu warnen?
Das Problem ist, dass der Weltklimarat keine politische Pressure-Group ist, sondern eine wissenschaftliche Institution, er ist ein Sachverständigengremium. Seine Mitglieder müssten ihre Ergebnisse, Analysen eigentlich leidenschaftslos vortragen, wie es Pathologen oder Psychiater als Sachverständige vor deutschen Gerichten tun, egal, wie fürchterlich die Verletzungen des Opfers sind, wie abartig die Psyche des Täters ist.
Der Bielefelder Wissenschaftssoziologe Peter Weingart glaubt, dass die mangelnde Distanz der Klimaexperten etwas mit ihrer Ausbildung zu tun hat. Naturwissenschaftler lernen in der Regel nur, die Ergebnisse ihrer Arbeit zu reflektieren, nicht ihre Rolle innerhalb des gesellschaftlichen Entscheidungsprozesses. So verbrüdern sie sich mit Politikern, die ihre Meinung teilen. So schaden sie der Wissenschaft.
Stefan Rahmstorf, den Professor aus Potsdam, den manche einen Klimaschutzeiferer nennen, überzeugen die Argumente nicht. Für ihn ist der Klimawandel eine existentielle Frage, »eine Feuertaufe für die sich entwickelnde Weltgesellschaft«. Rahmstorf ist Vater eines Babys, er fährt es in einem Fahrradanhänger durch Potsdam, er besitzt kein Auto. Er will sein Möglichstes tun, um seinem Kind eine Welt zu hinterlassen, die der heutigen möglichst ähnlich ist, zumindest, was das Klima angeht. Er fühlt sich verantwortlich, schließlich ist er einer, der das große Ganze sieht, und er will nicht, in einem halben Jahrhundert, wenn vieles klarer sein wird, wenn es vielleicht auch schlimmer sein wird, eine Antwort geben müssen auf die Frage: Warum hast du nichts gesagt, warum hast du nichts getan?
Pachauri, der Vorsitzende des Weltklimarats, fürchtet dieselbe Frage. Er wird diese Woche in Bangkok sein, wo gestritten wird um mögliche Lösungswege, um die Verteilung der Lasten, um die Ausgestaltung der Zukunft. Pachauri wird oben auf dem Podium sitzen, der Debatte folgen und das tun, was er glaubt tun zu müssen. Auf der Seite der guten Sache zu sein und nicht auf der Seite der Wissenschaft.