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Sprache und Gewalt Wird ein Krieg mit Waffen oder mit Worten gewonnen, Herr Roth?

Krieg hat über Jahrtausende unsere Sprache und damit unser Denken geprägt. Der Linguist Kersten Roth erklärt, warum das auch heute noch für uns wichtig ist.
aus DER SPIEGEL 18/2022

SPIEGEL: Warum schreien wir eigentlich »wie am Spieß«?

Roth: In früheren Zeiten wurden Opfer tatsächlich mit Lanzen, also Spießen, aufgespießt. Die Grausamkeiten des Krieges waren über die Jahrtausende eine alltägliche Erfahrung für Menschen. Der Krieg hat deshalb immer auch unsere Sprache geprägt.

SPIEGEL: Und heute?

Roth: Heute »verteidigen« wir Positionen, »greifen« einander »an«, »geben uns geschlagen«. Das ist nicht einfach nur Sprache. Die kognitive Metapherntheorie hat uns gezeigt, dass wir in diesen Begriffen denken. Aber im Grunde ist das unproblematisch, solange wir nicht tatsächlich zuschlagen. Denken Sie an das, was jedes Wochenende in den Fußballstadien stattfindet und wo es auch ganz selbstverständlich um Angriff und Verteidigung, um Sieg und Niederlage geht in aller Regel doch gewaltfrei.

SPIEGEL: Wird ein Krieg eher mit Waffen oder mit Worten gewonnen?

Roth: Sprache ist eine Waffe, sagt Tucholsky. Wir müssen uns von der Alltagsvorstellung lösen, dass Sprache ein Werkzeug ist, mit dem wir Informationen austauschen oder die Welt beschreiben. Die Art und Weise, wie wir über die Welt reden, schafft eine bestimmte Wirklichkeit und impliziert ganz bestimmte Konsequenzen. Im Falle eines Krieges gilt das natürlich umso mehr, denn Kriege und militärische Gewalt müssen nicht erst heute legitimiert werden. Dass ein Akteur sehr wohl weiß, dass er einen illegitimen Krieg führt, kann man mit großer Regelmäßigkeit daran festmachen, dass er Sprachregelungen erlässt und gewaltsam durchsetzt. Putin tut das zum Beispiel mit dem Verbot, den Krieg in Russland einen Krieg zu nennen. Das ist eine wunderbare Illustration dessen, was Orwell in seinem Roman 1984 mit dem "Neusprech" beschrieben hat.

SPIEGEL: Die russischen Besatzer werden in den ukrainischen Nachrichten als "Raschisten" - eine Mischung aus "Raschja", wie Russland auf Englisch ausgesprochen wird, und Faschist, bezeichnet, die eigenen Truppen als "Kämpfer des Guten" bezeichnet. Welchen Zweck erfüllen solche Ausdrücke?

Roth: Ausdrücke dieser Art sind nicht auf Differenzierung ausgelegt, nicht auf Empathie der anderen Seite gegenüber, nicht lösungsorientiert. Die berühmte Sentenz, dass im Krieg die Wahrheit zuerst stirbt, hat auch mit diesem fast unumgänglichen Schwarz-Weiß in der Sprache zu tun. Es ist ja durchaus auffällig, dass man nicht nur in der Ukraine die Russen als Faschisten bezeichnet, sondern dass umgekehrt ja auch Putin von Anfang an die Regierung in der Ukraine als eine faschistische bezeichnet hat. Wenn es "Totschlagargumente" gibt, dann ist "Faschist" sicherlich mit gutem Grund und im Wortsinn als "Totschlagwort" zu bezeichnen, gerade in diesem Konflikt: Beide Länder haben ja gemeinsam, dass die Gewalttaten des faschistischen Deutschlands im Zweiten Weltkrieg ihre schlimmste historische Erfahrung ist, die vermutlich in nahezu allen Familien mit persönlichen Schicksalen verknüpft ist. Wenn der Gegner also Faschist ist, dann kann die militärische Gewalt gegen ihn nicht mehr in Frage gestellt werden.

SPIEGEL: Die Propaganda Russlands ist offenkundig, wie sieht es auf der anderen Seite aus?

Roth: Gerade weil sowohl die Ukraine als auch Deutschland Demokratien mit pluralen Öffentlichkeiten sind, ist es wichtig, hier genauer hinzuschauen. Dabei fällt in der Art und Weise, wie der Diskurs in Deutschland zur Zeit läuft zum Beispiel auf, dass dieser Krieg relativ einmütig als ein Kampf um die Verteidigung der demokratischen Welt perspektiviert wird. Das hohe Engagement auch Deutschlands in dem Konflikt wird bevorzugt so begründet. Ganz unabhängig davon, inwiefern diese Perspektive für die Ukraine selbst zutrifft: Unter den Verbündeten, mit denen gemeinsam wir uns an die Seite der Ukraine stellen, sind einige, die sich in den letzten Jahren nicht gerade als Verteidiger der europäischen Idee von Demokratie hervorgetan haben - denken wir an Viktor Orban oder Jaroslaw Kaczyński. Es ist nicht allein der Krieg, es ist eben auch die Art, wie wir über ihn sprechen, die dafür sorgt, dass das zur Zeit ausgeblendet scheint.

SPIEGEL: Beeinflusst dieser Krieg in der Ukraine also auch unsere Sprache?

Roth: Sie beeinflusst unseren Gebrauch der Sprache. Es ist nicht so, dass die Sprache von heute auf morgen neue Möglichkeiten bietet. Aber wir nutzen sie anders. Beispielsweise sind Heldentum und Mut keine typischen Motive der politischen Sprache in der Bundesrepublik gewesen, auch nicht im Zusammenhang mit den bisherigen Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Das liegt natürlich an der Bedeutung dieser Motive in Weltbild und Propaganda des Nationalsozialismus. In der aktuellen Berichterstattung über den Krieg ist das plötzlich anders. Hier werden die militärischen Aktionen und Erfolge der Ukrainer sehr häufig im Narrativ des heldenhaften Davids im Kampf gegen Goliath erzählt.

SPIEGEL: Ist das also Propaganda?

Roth: Wir unterliegen Methoden der Beeinflussung. Nicht nur im Krieg und nicht nur in der Politik. Schon die Rhetorik der Antike hat erkannt: Menschen sprechen nicht, weil sie sich so gerne reden hören. Sie sprechen nicht, weil sie es wollen, sondern weil sie es müssen zur sozialen Selbstbehauptung. Wir wollen als Verkäufer unsere Waren loswerden, als Liebende erhört werden und als Wissenschaftlerin oder Journalist gehört und gelesen. Und gerade in Demokratien ist Politik, auch im Krieg, vollständig darauf angewiesen, ihre Interessen durch Sprache durchzusetzen. In einer Diktatur wie Putins Russland ist Sprache dagegen nur Beiwerk, weil die Politik dort mit Gewalt durchgesetzt wird. Genau diese physische Gewalt macht für mich Propaganda aus. Wo Gegenrede möglich ist, ist Beeinflussung unproblematisch.

Professor Kersten Roth, 49, ist Linguist und Leiter der Arbeitsstelle für linguistische Gesellschaftsforschung in Magdeburg.

JST

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