
Steuerdumping in der EU Der Skandal, für den sich kaum jemand interessierte


Steuerexperte Nouwen
Foto: Andreas Chudowski / DER SPIEGELEs gab Momente, da habe ich mir gewünscht, Martijn Nouwen hätte an diesem Tag im Juli nicht bei mir angerufen und gesagt, er habe da etwas für mich. Ich hatte den niederländischen Wissenschaftler 2016 bei Recherchen zum »Luxemburg Leaks«-Steuerskandal kennengelernt. Ihm war es damals gelungen, vertrauliche Dokumente der sogenannten Gruppe Verhaltenskodex der EU zu bekommen.
In diesem Gremium koordinieren die EU-Staaten ihre Regeln zur Unternehmensbesteuerung – mit dem Ziel, sich im Wettbewerb um die Ansiedlung großer Konzerne nicht gegenseitig mit immer niedrigeren Tarifen zu unterbieten. Doch bis heute zahlen Weltkonzerne wie Amazon, Google oder Apple teils lächerlich geringe Steuern auf ihre Milliardengewinne.
Nouwen bot mir im Juli rund 2500 Dokumente der Gruppe Verhaltenskodex an, vertrauliche Sitzungsprotokolle, Tischdokumente, E-Mails, die er für seine Doktorarbeit ausgewertet hatte. Sie versprachen einen einmaligen Blick in jenen Maschinenraum, in dem die EU-Staaten um viele Milliarden Euro und die nationale Autonomie in Steuerfragen ringen.
Auch die Bundesregierung verhindert mehr Transparenz
Doch schnell war klar, dass die Papiere ihre Geheimnisse nicht kampflos preisgeben würden. Die Texte bestanden aus schlimmstem Fachchinesisch, neben dem manche Abhandlungen etwa aus der Astrophysik, mit denen ich in meiner Zeit als Wissenschaftsredakteur zu tun hatte, wie Harry-Potter-Romane wirken.
Wochenlang habe ich mit meinen Kollegen Michael Sauga aus Brüssel und Nicola Naber aus Hamburg zusammen mit dem Rechercheverbund European Investigative Collaborations (EIC) die Dokumente durchleuchtet. Das Ergebnis legte offen, wie in den Steueroasen der EU getrickst wird und wie auch die Bundesregierung Maßnahmen für mehr Transparenz verhindert hat.
Als wir unsere Recherchen am 13. November veröffentlichten, blieb der große Aufschrei leider aus. Womöglich lag es daran, dass die Ampelverhandlungen alle Debatten beherrschten, vielleicht war das Thema zu abstrakt. Vielleicht hatten wir es nicht geschafft, den Leserinnen und Lesern die Tragweite dieser Politik zu veranschaulichen. Vielleicht haben die vielen Steuerskandale der vergangenen Jahre sie auch etwas abgestumpft. Wie auch immer: Wenn der nächste Skandal um Ministeuern für Milliardenkonzerne bekannt wird, können Europas Politiker nicht mehr so tun, als wären sie machtlos gewesen.