ABERGLAUBEN Stille Kraft
Die schnöde Vernunft hat Hausverbot in Berlin-Schöneberg, Monumentenstraße 37, zweiter Hinterhof. Zwischen falschen Jasminbüschen dreht sich Ogar Grafe, 34, wie ein Kreisel und stimmt ein helles Summen an. Sirenenartig hallt der Gesang die Wände hoch. »Der Spinner ist wieder da«, wettert eine Frauenstimme aus dem dritten Stock.
Grafe ist Ärger mit Anwohnern gewohnt. Er hält inne. »In der Nacht erscheinen Duftelfen unter Linden und Jasminbüschen. Ihr betörender Geruch führt zum Tanzwahn«, keucht der Derwisch im Matrosenlook in Richtung seiner 60 Zuhörer.
Sie alle sind beim »Schöneberger ElfenRundgang« dem Lockruf der Elfen gefolgt. Die Fabelwesen, da ist sich der Sänger und Schriftsteller Grafe ganz sicher, bevölkern nicht nur die Märchenwelten der Brüder Grimm und J. R. R. Tolkiens, sondern hausen unter efeuberankten Mauern oder auf Kastanienbäumen, beleuchten die Hänge vom S-Bahn-Gelände und veranstalten nächtliche Tanzreigen in den Parks der Hauptstadt. Meist wohlwollend, aber mitunter rachsüchtig, greifen die Leichtflügler in den Alltag ein.
Seitdem der Glaube für den Elfenspäher - angeblich in einer Herbstnacht - Gewißheit wurde, trägt er einen grünen Punkt auf der Stirn. »Elfen wissen dann, daß ich für sie offen bin.« Schnell gewann Grafe so das Vertrauen scheuer Fliedermaidas, musikalischer Wallinen und anderer Elfenarten, die, so schrieb der Märchendichter Jacob Grimm in seiner »Deutschen Mythologie«, »nur durch Zufall oder Drang der Umstände bewogen werden, mit Menschen zu verkehren«.
Im nordischen Volksglauben verkörpern Elfen die geheimnisvollen, in der Stille wirkenden Kräfte der Natur. Als Lichtgeister beseelen sie vom Wind bewegte Ährenfelder, das wogende Wasser oder den rauschenden Wald. Wer Speisen und Trank genießt, den die zuweilen lüsternen Elfen in Goldbechern darbieten, ist ihnen fortan verfallen. Das gleiche Schicksal droht auch jedem, der ihre nächtlichen Tanzkreise auf taufeuchtem Rasen stört.
»Bei uns ist die germanische Mythenwelt seit der Nazizeit tabuisiert«, klagt Wolfgang Müller, 39, der zusammen mit Grafe den Elfen-Rundgang organisiert. Aus Nibelungensage und den Volksmärchen saugten sich nationalistische Ideologen alles heraus, was ihren Vorstellungen germanischen Heldentums entsprach. Besonders am blonden Siegfried und blutgierigen Hagen fanden die braunen Herren Gefallen - nach dem Krieg galt die Nibelungensage deshalb als ideologisch bedenklich.
Die vergleichsweise harmlosen Prinzen, Ritter, Feen und Zwerge der Grimmschen Märchenwelt überstanden den Mythenspuk der Nazis dagegen unbeschadet. Bei der Entnazifizierung wären sie wohl als Mitläufer eingestuft worden.
Im Berlin des Jahres 8 nach der Wende wird die Renaissance der Elfenliebe sogar offiziell unterstützt: 1000 Mark Zuschuß gewährte die Schöneberger Bezirksbürgermeisterin Elisabeth Ziemer (Bündnis 90/Grüne) für den Druck einer Elfenkarte, die fein säuberlich alle Orte verzeichnet, an denen die hochflüchtigen Naturgeister bisher aufgetreten sein sollen. »Wir sind gegenüber allem Neuen sehr aufgeschlossen«, begründet die grüne Politikerin den lokalpolitischen Vorstoß ins Fabelreich.
Rentnerin Elisabeth Poppe, 61, fühlt sich dort schon länger heimisch. »Meine Frühlingsblumen werden von Zwergen hochgeboxt. Gutes Zureden hilft auch.« Sie glaubt fest an die Beseeltheit der Dinge, spricht schon mal mit ihrer Heizung oder dem defekten Fahrstuhl. Den Elfen-Rundgang findet sie bezaubernd. »Man kann nicht immer nur in die Kaufhäuser gehen.«
Derlei Bestätigung gibt es selten bei einer Führung. Müller zupft verlegen an seiner schwarzen Zipfelmütze: »Letztens meinte jemand, die Geschichte mit den Elfen habe sich Fontane einfallen lassen, als er betrunken war. Für den war das alles Quatsch.« Fachmann Müller weiß es besser: »Wenn auf Island eine neue Straße gebaut wird, fragt man vorher die Elfenbeauftragte, ob man das an dieser Stelle darf. Das ist eine Art praktizierter Umweltschutz.«
Kühn gesprochen - nur: Die Rundgeführten wollen endlich Elfen sehen. Auf dem St.-Matthäus-Friedhof soll es mit der Kontaktaufnahme klappen. Auf dem Grab der Brüder Grimm tanzen angeblich Erdelfen, gemeinhin Zwerge genannt. Die Sonne ist längst hinter dem Horizont verschwunden, ein kühler Luftzug weht. Es duftet nach Efeu und Flieder.
War da was? Still ragen die Granit- blöcke der Grimmschen Grabstätte in den Abendhimmel. Ein Knacken. Wer wirft hier mit Eicheln? Sind es die angekündigten Zwerge, die das Grab ihrer Schöpfer pflegen? »Die Beetzwerge«, flüstert Grafe, »sind zur Zeit durch die Tarnkappen leider nicht sichtbar.«
* Am Grab der Brüder Grimm.