Ausschreitungen in Stuttgarter Innenstadt Erst Party, dann Randale

Massives Polizeiaufgebot in Stuttgart: "Situation außer Kontrolle"
Foto: Simon Adomat/ dpaEs begann mit einem großen Besäufnis. Hunderte Teenies und Twens hatten sich am Samstagabend am Eckensee im Stuttgarter Zentrum getroffen, um Party zu machen. Wegen der Corona-Beschränkungen ist das zurzeit nur draußen möglich, Klubs und Diskotheken dürfen in der baden-württembergischen Landeshauptstadt nicht öffnen. Die Feierwütigen tranken Schnaps und grölten. Als Polizisten ein Drogendelikt überprüften, eskalierte die Lage.
Laut Polizei sollte gegen 23.30 Uhr im Rahmen eines BTM-Verfahrens ein 17-jähriger Deutscher wegen eines Rauschgiftdelikts kontrolliert werden. Daraufhin hätten sich sofort 200 bis 300 Personen aus der sogenannten Stuttgarter Partyszene mit dem jungen Mann solidarisiert und massiv die anwesenden Polizisten angegriffen. Die Gruppe der Angreifer sei innerhalb kurzer Zeit auf 400 bis 500 Personen angewachsen. Polizisten seien mit Flaschen und Steinen beworfen worden. Während eines medizinischen Notfalls sei auch der Rettungsdienst angegriffen und behindert worden.
Es war ein Gewaltausbruch, wie ihn Stuttgart in dieser Form bislang nicht gekannt hat. Grüppchenweise zogen die Randalierer Richtung Schlossplatz. Mit Stangen zertrümmerten sie die Scheiben abgestellter Streifenwagen. Sie bewarfen vorbeifahrende Polizeifahrzeuge mit Glasflaschen und Pflastersteinen. Manche riefen "fuck the police", andere attackierten Beamte.
Vermummter Angreifer attackiert Polizisten
"Überall lagen Glassplitter", berichtet ein Augenzeuge dem SPIEGEL. Die Polizei habe den Platz dann nach Norden hin geräumt. "Die Kids sind wahnsinnig schnell weggelaufen." Mehr als 280 Sicherheitsbeamte waren im Einsatz. Aber es gelang ihnen nicht, die Kontrolle zu gewinnen. Überall in der Innenstadt zerstörten die mit Masken vermummten Angreifer wahllos Geschäfte, vom Ein-Euro-Shop bis zum Juwelier.
Polizeihubschrauber flogen über die Stadt. Im Kurznachrichtendienst Twitter kursierten Videoaufzeichnungen von jungen Männern, die gegen Schaufensterscheiben von Geschäften treten oder Pflastersteine aus dem Boden reißen. Ein Video zeigt, wie ein vermummter Angreifer einem Polizisten von hinten in den Rücken springt.
"Nie dagewesene Dimension"
Auf einer Pressekonferenz am Sonntagnachmittag machte die Polizei Stuttgart erste Angaben zum Umfang der Ausschreitungen: Demnach wurden 19 Polizisten verletzt, einer von ihnen sei dienstunfähig. Man habe 24 Personen festgenommen, von denen zwölf deutsche Staatsangehörige seien. Sieben von ihnen sollten dem Haftrichter vorgeführt und in Untersuchungshaft genommen werden. 40 Geschäfte seien beschädigt worden, neun davon auch geplündert worden. Streifenwagen seien beschädigt worden, zwölf davon nicht mehr einsatzfähig.
Der Vizepolizeipräsident in Stuttgart, Thomas Berger, lobte ausdrücklich die Einsatzkräfte, die unter schwierigsten Bedingungen die Lage in den Griff bekommen hätten. Dies habe mehrere Stunden gedauert, erst gegen 4.30 Uhr habe sich die Lage einigermaßen beruhigt. Polizeipräsident Lutz sprach von "unglaublichen Geschehnissen, die mich fassungslos gemacht haben". Die Gewalt habe eine nie dagewesene Dimension gehabt. Lutz geht von weiteren Festnahmen aus.
"Diese Taten sind kriminelle Akte"
"Ich verurteile diesen brutalen Ausbruch von Gewalt scharf", sagte Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) zu den Vorkommnissen. "Diese Taten gegen Menschen und Sachen sind kriminelle Akte, die konsequent verfolgt und verurteilt gehören." Die Bilder aus der Stuttgarter Innenstadt könnten einen nicht kaltlassen. "Unsere Gedanken sind bei den verletzten Polizeibeamten und den durch die Plünderungen Geschädigten."
Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) will mit der vollen Härte des Rechtsstaats gegen die Randalierer vorgehen - man werde Plünderungen, Randale und marodierende Gewalttäter im Südwesten nicht dulden. Am Polizeipräsidium Stuttgart sei eine 40-köpfige Ermittlungsgruppe eingerichtet worden, das Landeskriminalamt werde die Ermittlungen unterstützen. Strobl will am Mittwoch den Landtag in einer Sondersitzung des Innenausschusses informieren.
AfD-Fraktionsvorsitzende instrumentalisiert Ausschreitungen
Während die Polizei noch keine gesicherten Erkenntnisse zur Provenienz der Randalierer hat, steht sie für einige schon fest. In den sozialen Medien versuchten Rechtspopulisten wie Alice Weidel, die Vorfälle politisch zu instrumentalisieren: "Antifa und 'Migrantifa' außer Kontrolle, Polizisten verletzt!", schrieb die AfD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag auf Twitter.
Augenzeugen berichten dagegen, es habe sich bei dem Mob um eine heterogene Gruppe gehandelt: Unter den Halbstarken seien Menschen mit Migrationshintergrund gewesen - und ohne. Es habe sich auch nicht um politisch motivierte Gewalt linker Demonstranten gehandelt.
Polizei hält die Stellung
"Die Täter müssen rasch identifiziert und zur Verantwortung gezogen werden", twitterte CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak. Die Spurensicherung hat die Stuttgarter Innenstadt weitflächig untersucht. Die Polizei bittet, mögliche Bilder und Videos im Netz auf einem Hinweisportal hochzuladen.
Nachdem sich die Lage am Sonntag wieder beruhigt hatte, konnte ein Großteil der aus anderen Teilen Baden-Württembergs in die Hauptstadt beorderten Einsatzkräfte wieder nach Hause fahren. Doch es machte sich Katerstimmung breit. Die Schaufensterscheiben mehrerer Handyläden waren eingeschlagen, ein Eiscafé und ein bekanntes Bekleidungsgeschäft wurden bei den Ausschreitungen beschädigt. Die Polizei scheint kein Risiko eingehen zu wollen: Zur Sicherheit bleibe ein Großaufgebot in der Innenstadt präsent, hieß es.
Mit Material von dpa