Sucht ohne Ende Die Traurigkeit des einsamen Essers

Nach dem Tod seiner Frau überfiel Heinz Asthoff ein unstillbarer Hunger. Der Rentner isst und isst - ohne zuzunehmen. Das verschaffte ihm kurzfristig sogar TV-Ruhm. Die Kameras sind längst weg, die Einsamkeit bleibt - Asthoff isst weiter.
Von Fredy Gareis

Offenbach - Neben der blitzenden Spüle schält Heinz Asthoff einen Leberkäse aus der Alufolie. Sein Magen grummelt, es ist Mittag, der Kaffee vom Frühstück schon kalt.

Der Mann mit den tiefseeblauen Augen wuchtet den Leberkäse auf einen Teller. Ein Kilo, ein ganzer Berg schwitzende Fleischmasse, von seinem Lieblingsimbiss in Offenbach am Markt. Schnell noch eine Zigarette rauchen. Heinz Asthoff zündet sich eine Goldfield an, der Rauch zieht in seine Lunge, es rasselt wie Würfel im Becher.

Ein seltsames Talent hat Asthoff zu zweifelhaftem Ruhm verholfen: die Offenbacher kennen ihn als den Mann mit dem bodenlosen Magen.

Sein Ruf hat ihn sogar ins Fernsehen gebracht. Asthoff nimmt noch einen Zug. Falten wie ausgetrocknete Flussbette durchziehen Hände und Gesicht. Eigentlich wollte er aufhören mit dem Rauchen, sagt er. Doch die Ärzte hätten ihm davon abgeraten. Dann würde er ja noch mehr essen.

Und diese Ärzte, sie wissen jetzt schon nicht, wohin das Essen verschwindet. Die 90 Kilogramm jedenfalls, die sich auf 1,85 Meter verteilen, erzählen nichts von den 10.000 Kilokalorien, die der Mann mit dem blonden Scheitel täglich zu sich nimmt.

Schulter zuckend sagt sein Hausarzt, dass er es wohl verbrennen werde - dann hätte der 68-Jährige den Stoffwechsel eines Kolibris. Es ist, als wäre Asthoffs Magen wie das Bergwerk, in dem er 36 Jahre gearbeitet hat: Hunderte von Schächten, in denen alles verschwindet. Bisweilen auch die Frage nach dem Warum. Die Ärzte können nicht erklären, woher dieser Hunger kommt, warum Asthoff bereits eine Viertelstunde nach der letzten Mahlzeit wieder ein Grummeln aus dem Bergwerk vernimmt.

Vielleicht ist Asthoff süchtig nach Essen, es weiß ja keiner. Zum Psychologen will er nicht. Aber wenn Sucht auch immer eine Suche nach Liebe und Glück ist, dann ist man vielleicht auf dem richtigen Weg. Denn davon könnte es mehr in Asthoffs Leben geben.

"Allein sein ist Scheiße!"

Jeden Morgen um 3 Uhr schlägt er seine Augen auf, zieht sich an, und kämmt sich den Scheitel nach rechts. Mit dem Staubwedel attackiert er die Glasschalen, die in Flur und Wohnzimmer auf den Kommoden stehen. Fährt über die Schiffsbuddeln in der Schrankwand. Legt die Betten raus auf den Balkon, wie es seine Frau früher auch getan hat. Da liegt noch die Dunkelheit über dem Rhein-Main-Gebiet.

Zum Schluss putzt er die Spüle. Mit Stahlfix, das erklärt den Glanz. So ist das, sagt Asthoff. Allein sein "ist Scheiße!". Das Ausrufezeichen hängt noch in der Luft, da versucht er wie zum Trotz die Arme zu verschränken - die Pose löst sich in Ratlosigkeit auf.

Nach dem Putzen das Frühstück, dann Mittag, dann Abend. Dazwischen rauchen. Asthoff sagt, er verspeist jeden Monat mehr, als seine Rente hergibt. Tischlein, deck dich, das wär’s.

Mit der Hand an seinem Bergarbeiterrücken bückt sich Heinz Asthoff und holt aus dem Schrank eine ziegelsteingroße Box. Er öffnet sie bedächtig wie eine Schatztruhe und nimmt eine Postkarte von Castrop-Rauxel heraus, auf der gleich fünf Schnappschüsse sind, weil es nicht "die eine" Sehenswürdigkeit gibt.

Da war es schön, sagt Asthoff. Als er in der Zeche Lothringen in Bochum den Rücken in den ein Meter hohen Schächten krumm gemacht hat. Mit dem Presslufthammer dem Berg die Kohle rausschlug. Und immer nach Feierabend in die "Backe", die verstaubte Kehle spülen. Als die Biere noch stramm in Reihen warteten. Als Kumpels noch Kumpels waren. "Oh Junge", sagt Asthoff, und seine Stimme klingt, als käme sie direkt aus dem 1400 Meter tiefen Schacht. "Oh Junge."

Wie viele Bergmänner vor ihm nahm Asthoff die Parade der Biere zu oft ab. Minna mochte ihn trotzdem. Sie lernten sich kennen in einer Kneipe in Offenbach, Asthoff weiß nicht mehr wo, er hatte nur Augen für sie.

Während die Kiefer mahlen, ist der Blick leer

Er war in der Stadt, weil seine geliebte Dortmunder Borussia gegen die Kickers spielte. Asthoff tauschte bald den Pott gegen das Rhein-Main-Gebiet. "Meine Minna", seufzt Asthoff und holt einen Papierschnipsel aus der schwarzen Box: Als sie 1984 geheiratet hatten, war das der Lokalzeitung sogar eine Meldung wert.

In der Küche wartet immer noch der Leberkäse. Die Vergangenheit hat ihn abgelenkt. Asthoff hastet an den Tisch, setzt sich und beginnt den Berg abzutragen. Draußen scheint brillant die Sonne über die Gartenlauben am nahen Teich. Enten quaken.

Doch während seine Kiefer kräftig wie eine Mühle mahlen, ist sein Blick sonderbar leer. Das Messer fährt von oben in den Berg hinein und schneidet ganze Flanken ab, die Asthoff sich in den Mund schaufelt. Für das handtellergroße Brot benötigt er vier Bisse. Gelegentlich nimmt er einen Schluck von seinem schon seit Stunden kalten Kaffee.

Asthoff redet nicht während des Essens. Das Messer quietscht über den Teller. Vielleicht denkt er an Minna. Wie schön die Zeit mit ihr war. Noch schöner als Castrop-Rauxel. Zur Hochzeit trug Asthoff einen weißen Anzug. Anderthalb Jahre später starb Minna. Unterleibskrebs. Danach hörte er auf zu trinken. Von heute auf morgen. Und ebenso plötzlich war der Hunger da.

Asthoff wachte eines Nachts auf und hatte ein Loch im Magen wie ein Kriegsgefangener. Er ging in die Küche auf der Suche nach etwas Essbarem. Er wollte Brot, Brot und Fleischwurst. Viel Fleischwurst. Seitdem versucht Asthoff, seinen Magen zu besänftigen. Mit Bauchfleisch, mit Leberkäse, mit 10.000 Kilokalorien täglich, und am liebsten mit Kartoffelsalat à la Asthoff: 2,5 Kilo Kartoffeln, 6 Eier, 3 Gläser Mayonnaise. Fettiges, sperriges Essen, das ist am besten. "Nudeln mag ich nicht so", sagt Asthoff. "Die rutschen einfach runter und das war's."

Kneipenwette: 20 Frikadellen, 100 Reibekuchen

Vor einiger Zeit, da ist er noch in Kneipen gegangen, erzählt er, und hat sich Wetten aufschwatzen lassen. 20 Frikadellen, 100 Reibekuchen. Aber heute wagt es keiner mehr, sagt Asthoff und schüttelt traurig den Kopf.

Im Gegenzug ist er eine lokale Berühmtheit. Vielleicht genießt Asthoff das noch mehr als seinen Kartoffelsalat, denn es täuscht ein wenig hinweg über seine Einsamkeit, über die Stunden, in denen er in seiner Wohnung rastlos umherhuscht. Im Supermarkt, auf dem Markt, in der Stadt: Asthoff grüßt nach links und nach rechts. "Den kannste fragen, wieviel ich essen kann", sagt Asthoff, und wenn ihn einer erkennt, dann glätten sich die tiefen Täler in seinem Gesicht.

So wurde irgendwann aus dem traurigen Asthoff und seinem bodenlosen Magen eine Sensation. Schreinemakers war die erste vom Fernsehen. Andere folgten. Asthoff hat alle Besuche auf Videokassette. Ein Gummi hält sie zusammen, sie wohnen im Schank neben der Box. Asthoff schaut sie sich gerne an.

Für ein paar Momente ist er dann nicht in seinem "Gefängnis", wie er seine Wohnung nennt, sondern da draußen, wo ihn alle sehen können. Dann legt er das Gesicht in seine Hand und sagt: "Oh Junge."

Schnitzel verschwinden wie Schiffe im Bermuda-Dreieck

Die Teams staunten ungläubig, als die Schnitzel in Asthoffs Magen verschwanden wie Schiffe im Bermudadreieck. Er genoss jeden einzelnen Besuch, denn die Teams zahlten. Auf dem Markt, im Café Bieber, im Wiener Wald. Ein gefundenes Fressen, sozusagen.

Er greift hinter sich, ohne zu schauen, und öffnet eine Tür in der Schrankwand. Dort steht immer noch die Flasche Sekt, die er damals von der Schreinemakers bekommen hat. "Die war nett", sagt er. Hat sogar versucht, ihm damals eine Frau zu vermitteln. Gut kochen soll sie können, hat er damals als wichtigste Eigenschaft genannt. Er hat viel gewitzelt in dieser Sendung; die Traurigkeit, die diesen Menschen beherrscht, hat sich nur angedeutet.

Das mit dem Kochen, das wäre wahrscheinlich gar nicht so wichtig gewesen. Kameradschaft, Nähe, Zuneigung. Eine, die ihn zurechtweist, wenn er nachts mit dem Staubwedel durch die Wohnung geistert und sagt: "Heinz, komm wieder ins Bett."

Aus der Frau ist nichts geworden. Dafür war das Essen gut. Ganze Platten mit Brötchen standen auf dem Tisch, an dem Schreinemakers und Asthoff saßen. Er war im blauen Anzug gekommen und schaute die Brötchen höflich an. Bis die Schreinemakers fragte, warum er denn nicht zugreife? "Na", sagte Asthoff da, "ich wusste doch nicht, ob die was kosten."

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