Todesfälle in Mainzer Klinik Experten rätseln über verseuchte Infusion

Todesfälle in Mainzer Klinik: Experten rätseln über verseuchte Infusion
Foto: Marius Becker/ dpaHamburg - Es ist nicht der erste Fall dieser Art: Über das Geschehen auf Station C 5 sollte möglichst wenig an die Öffentlichkeit dringen. Am 10. Dezember 1989 starben auf der Intensivstation des Kölner Kinderkrankenhauses in der Amsterdamer Straße vier Säuglinge. Die Eltern wurden in den frühen Morgenstunden in die Klinik gerufen, man informierte sie, ihre Kinder lägen im Sterben. Insgesamt zehn Säuglinge hatten in dem Krankenhaus eine Blutvergiftung erlitten, über Flüssignahrung waren sie mit dem Fäkalkeim "Enterobacter cloacae" infiziert worden, das Bakterium war über einen Tropf direkt in den Blutkreislauf gelangt.
Die Staatsanwaltschaft ermittelte, doch die Öffentlichkeit erfuhr fünf Jahre lang nichts über die Geschehnisse auf der Intensivstation. Es habe weder die Pflicht noch die Notwendigkeit bestanden, das Geschehen andernorts zu melden, sagte 1994 der Chef des Gesundheitsamts, Jan Leidel. "Denn eine Gefahr über das Krankenhaus hinaus hat nie bestanden."
Nun, mehr als 20 Jahre später, ist es am Uniklinikum Mainz zu vergleichbaren Infektionen gekommen - doch die Informationspolitik ist eine völlig andere.
Am Freitagnachmittag stellte ein Mitarbeiter der sogenannten TPN/CIVAS-Abteilung der Krankenhausapotheke Ernährungslösungen für elf Säuglinge zusammen, die auf der Intensivstation des Klinikums behandelt wurden. Kohlenhydrate, Aminosäuren, Elektrolyte, Spurenelemente, Fett, Vitamine und weitere Komponenten werden in diesem Verfahren so gemischt, dass sie den Bedarf der kleinen Patienten individuell - je nach ihrem aktuellen Erkrankungsstand - abdecken. Tropfen für Tropfen werden die Stoffe durch Schläuche geleitet und vermischt.
Die Infusionslösung wird dann umgehend zur Station gebracht und verabreicht, das schnelle Verfahren soll verhindern, dass sich Keime bilden, die vor allem für die ohnehin schwer erkrankten Frühchen lebensbedrohlich sein können.
Die Mengen der Ernährungslösungen sind - gemessen am Bedarf eines Erwachsenen - winzig: In Mainz wurden einem Säugling 30 Milliliter der Flüssigkeit verabreicht, das entspricht in etwa einem Espresso, die größte Menge waren an jenem Freitag 100 Milliliter, nicht mal ein halbes Wasserglas voll. Eine Referenzprobe brachte man standardmäßig in die klinikeigene Mikrobiologie - zur Untersuchung.
"Wir sind schockiert"
Während auf der Intensivstation die Säuglinge, die meisten von ihnen Frühchen, mit der Lösung versorgt wurden, befand sich eine Probe im Brutschrank. Bei deren Untersuchung am Samstagnachmittag entdeckten Chemiker eine Verseuchung mit Enterobacter-Darmbakterien.
Das war für einige der behandelten Säuglinge zu spät.
Zwei Babys, acht und zwei Monate alt, starben am Nachmittag, fünf weitere erkrankten, eines dieser Kinder schwebt noch immer in Lebensgefahr. "Ich gehe davon aus, dass auch dieses Kind sterben wird", sagte der Medizinische Vorstand der Klinik, Norbert Pfeiffer, SPIEGEL ONLINE. Der Zustand vier weiterer Kinder sei derzeit stabil, sie wurden mit Antibiotika behandelt. "In jedem Jahr mischen wir 90.000 solcher Lösungen ohne Verkeimung. Wir sind schockiert über die aktuellen Ereignisse", so Pfeiffer.
Wie konnten die Keime in die Lösung gelangen? Für Pfeiffer sind zwei Szenarien denkbar: Die Keime könnten bereits in den Grundkomponenten enthalten gewesen sein - in diesem Fall wären die Zuliefererfirmen für die Verunreinigung verantwortlich. Oder aber sie sind beim Zusammenmischen in die Lösung geraten - in diesem Fall wäre die Klinikapotheke für die Kontaminierung verantwortlich. "Das halte ich für wahrscheinlicher", sagt Pfeiffer. "Im Zusammenmischungsprozess wird mehr hantiert, da kann so etwas leichter passieren."
Leicht passieren? Klaus-Dieter Zastrow von der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH) geht davon aus, dass eine solche Verseuchung nicht "leicht passiert" - sondern es im Gegenteil sogar schwierig ist, die Darmbakterien in die Lösung zu bekommen. "Mir ist rätselhaft, wie so etwas passieren kann", sagte Zastrow SPIEGEL ONLINE.
Ein "höchst unwahrscheinlicher" Vorfall
Eigentlich haben sich die Apotheker der Qualitätssicherung, den so genannten GMP-Leitlinien (Good Manufactoring Praxis, "gute Herstellungspraxis"), verpflichtet. Doch offenbar wurden die Vorschriften nicht eingehalten.
Dass die Verunreinigung beim Abfüllen der Komponenten für die Mischung entstanden ist, hält auch Zastrow für höchst unwahrscheinlich: "Die Flaschen werden befüllt, versiegelt und dann sterilisiert, tausendfach. Das heißt, an dieser Stelle könnte nur eine Verunreinigung entstehen, wenn das Gerät zum Sterilisieren komplett ausfallen würde." In der Folge wären dann alle abgefüllten Flaschen dieses Herstellers verunreinigt. Das scheint aber nicht der Fall zu sein.
"Bei dem schnell tödlichen Verlauf der Krankheit muss es sich um eine massive Kontaminierung gehandelt haben", so Zastrow. Das Enterobacterium führt im Körper der Säuglinge, die ein ohnehin stark geschwächtes Immunsystem haben, zu einer Blutvergiftung.
Zastrow sagt, er sei "erstaunt", dass so etwas passieren könne: Denn das Umfeld, in dem die Nährungslösungen gemischt werden, lässt eigentlich keine Keime zu. Auf einer sterilen Werkbank werden auf einer desinfizierten Fläche die steril verpackten Inhaltsstoffe gemischt - von einem Mitarbeiter, der einen sterilen Kittel, einen sterilen Mund- und Nasenschutz und sterile Handschuhe trägt - und sich die Hände desinfiziert hat. Keime? Fehlanzeige.
Zumindest in der Theorie.
Der Vorfall lasse darauf schließen, dass offenbar mehrere dieser Vorschriften verletzt worden sein müssten, so der Hygieniker. Denn: Es gibt in der Krankenhausapotheke für alle Vorgänge eine doppelte Absicherung. Vergisst man eine der Vorschriften einzuhalten, dann greift immer noch der nächste Mechanismus. Haben die Handschuhe versehentlich ein Loch, so sind die Hände immer noch desinfiziert und der Schutz ist gewährleistet. Vergisst man, die Schutzscheibe herunterzuziehen, so trägt man immer noch einen Mund- und Nasenschutz, der das Verbreiten der Keime verhindert. "Es scheint, als habe man mindestens zwei Fehler begangen", sagt Zastrow.
Zahl der Toten durch mangelnde Krankenhaushygiene: 40.000
Doch auch wenn es klare Vorschriften gibt, heißt es nicht, dass sie auch eingehalten werden. Bis zu 40.000 Menschen sterben laut ZGKH jährlich, weil sie sich mit Krankenhauskeimen infizieren. Laut dem Robert-Koch-Institut (RKI) haben sich 2008 rund 600.000 Patienten infiziert, Zastrow geht gar von bis zu einer Million Infektionen aus. 30 Prozent dieser Erkrankungen, schätzt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ließen sich verhindern - wenn Kliniken mögliche Keimquellen identifizierten und ausmerzten.
In Mainz sucht inzwischen auch die Staatsanwaltschaft nach der Quelle der Infektion. Sie ermittelt wegen fahrlässiger Körperverletzung und fahrlässiger Tötung. Die Obduktion der beiden verstorbenen Kinder bestätige zunächst nur deren schwere Vorerkrankung, sagte der Leitende Mainzer Oberstaatsanwalt Klaus-Peter Mieth. Zumindest bei einem der Säuglinge hätte diese auch ohne Infektion zum Tode führen können. Bereits vor der Infektion sei das Kind auf Wunsch der Eltern notgetauft worden. Die Frage, wie es zur Infektion kam und ob diese auch die Ursache für die Todesfälle war, kann laut Mieth erst nach einer mikrobiologischen Untersuchung abschließend geklärt werden.
Um 13.20 Uhr am Sonntag hatte die Klinikleitung die Staatsanwaltschaft über die Todesfälle informiert. Zu spät, monierten Kritiker. Gegen diese Angriffe nahm Mieth die Mainzer Klinikleitung in Schutz: Es habe eine Weile gedauert, bis der Verdacht nach den Todesfällen auf die Nährlösung gefallen sei.
Im Falle der Kölner Klinik gab es keine strafrechtlichen Konsequenzen: Als Ursache der Kontamination komme nur ein Hygienefehler in der Klinik in Betracht, hieß es 1995 im Abschlussbericht der Staatsanwaltschaft. Ein Beleg sei aber dafür nicht erbracht. Die Ermittlungen wurden eingestellt - aus Mangel an Beweisen.