Todestag Johannes Pauls II. Um 21.37 Uhr sind die Polen solidarisch
Warschau - Der 160-köpfige Chor hat die Messe bereits begonnen, doch der Zustrom der Gläubigen will nicht abbrechen. Aus acht Seitenstraßen strömen sie auf den Pilsudski-Platz am Rande der Altstadt. Hier hatte Johannes Paul II. 1979 seinen historischen ersten Polenbesuch begonnen. "Dein Geist komme herab und ändere das Antlitz der Erde, dieser Erde", hatte Johannes Paul II. damals gesagt, Worte die heute den meisten Polen als Anfang vom Ende der kommunistischen Herrschaft gelten.
Für Adrian, Jahrgang 1986, ist das alles weit weg. Er hat seine Freundin zur Trauerfeier begleitet. "Ich bin Atheist", sagt der Mittelschüler. Dennoch hat auch ihn der Tod Johannes Pauls II. vor Jahresfrist verändert: "Früher habe ich mich nichts um den Papst geschert", sagt der junge Pole, "heute schätze ich ihn als großartigen Menschen". Schade sei nur, so Adrian, dass so viele Landsleute mit dem Tod Johannes Pauls II. vor allem Geschäfte machen wollten. "T-Shirts habe ich heute bereits gesehen, ja sogar Papsttassen", erzählt der Schüler.
Agata lehnt sich ein paar Meter entfernt vor dem Hotel Victoria an ihren Freund und hält fest eine gelbe Grabkerze umklammert. Traurig blickt sie in die Menschenmenge, hinüber zum hell erleuchteten Altarskreuz. Dort hat der polnische Primas Jozef Glemp inzwischen Präsident Lech Kaczynski und polnische Spitzenpolitiker begrüßt. In seiner Predigt betont er, dass der Papst eben ein Landsmann gewesen sei und die Polen - aller Unkenrufe zum Trotz - doch verändert habe.
"Konsequent setzen wir seine Aufrufe und Lehren im Alltag um", behauptet Glemp, wirbt dann aber vor allem für mehrere riesige Sakralbauten, die in den letzten Jahren in Polen entstanden sind oder, wie in Warschau, gerade gebaut werden. "Noch steht Polen vor einem Examen der Freiheit", warnt Glemp und schließt damit rechtzeitig vor dem exakten Todesdatum Johannes Pauls II.
Punkt 21.37 Uhr schallen auf der gegenüberliegenden Weichselseite, im Stadtteil Praga, drei Minuten lang sämtliche Kirchenglocken; auf dem Pilsudski-Platz recken sich zu besinnlichen Trompetenklängen zehntausend Hände zum Himmel, jede hält eine Kerze.
"Keine gewaltige Umkehr"
Doch das stille Totengedenken ist von kurzer Dauer. Am alles beherrschenden Großbildschirm, dem in Polen bei päpstlichen Anlässen wohlerprobten "Telebim", erscheint nun Benedikt XVI. in einer Direktübertragung aus dem Vatikan. Der in Polen gerne einfach als "der beste Freund unseres Papstes" bezeichnete Nachfolger Johannes Pauls II. lobt auf Italienisch "Glaube und Hingabe" seines Vorgängers, bevor er etwas undeutlich, aber verständlich die Polen auf Polnisch begrüßt. "Ich segne euch herzlich", sagt Benedikt XVI., und die Besucher der Gedenkmesse auf dem Warschauer Pilsudski-Platz brechen in Beifall aus.
Noch vor wenigen Monaten war ein enttäuschtes Raunen durch Polens Katholiken gegangen, nachdem Zeitungen enthüllt hatten, der neue Papst könne gar nicht wirklich polnisch, die Sätze würde ihm nur phonetisch aufgeschrieben. Die Direktübertragung aus dem Vatikan ist kaum beendet, da lichten sich bereits die Besucherreihen. Hunderte drängen zu den nahen Tram- und Bushaltestellen.
Die Kerzen stellen sie auf dem Weg neben den mobilen Toilettenanlagen ins Gras, auf die Treppe des Kunstmuseums "Zacheta" oder einfach an den Straßenrand. Andere halten diese Ansammlungen roter und gelber Grabkerzen andächtig mit der Handy-Kamera fest; besonders beliebt als Motiv sind die Kerzenkränze im nahen "Sächsischen Park" (Park Saski).
Wenig erinnert am späten Abend an die Stimmung vor einem Jahr. Eine Welle von Solidarität hatte damals die Polen erfasst. Nur langsam fand das Land danach wieder zur Normalität zurück. "Die Polen werden nun wohl nur noch jeweils am Jahrestag Johannes Pauls II. solidarisch sein", meint die 17-jährige Pfadfinderin Ula leicht resigniert. "Der Papst hat auch bei mir keine gewaltige Umkehr bewirkt", gibt sie unumwunden zu und bezweifelt das von dem Springer-Blatt "Fakt", der auflagenstärksten polnischen Tageszeitung, rechtzeitig zum Wochenende hin beschworene Bild von unter dem Einfluss Johannes Pauls II. ungekrempelter Hochhaussiedlungen. "Wir hatten die Werte schon, bevor unser Papst starb", erklärt Ulas Kollegin Gosia.