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Tour des Vergessens

Ortstermin: Im Berliner Reichstag suchen Kinder aus Beslan die Spuren der Vergangenheit.
Von Mario Kaiser
aus DER SPIEGEL 33/2005

Sie sind einen weiten Weg gekommen, um zu vergessen, die Lehrerin Schanna, der Schüler Alichan und seine 34 Mitschüler. Sind über die Landstraße nach Wladikawkas gefahren, vorbei an dem Friedhof, wo die Erde auf dem Grab für das letzte Opfer noch frisch ist. Sind nach Moskau geflogen, hinweg über die Hügel, aus denen die Mörder kamen. Haben in Moskau die Maschine gewechselt und sind nach Berlin geflogen.

Sie erreichten Deutschland in der Nacht, es regnete, sie fuhren durch die Stadt und merkten, dass Vergangenes nicht einfach verschwindet.

Am Morgen danach gehen die Lehrerin und die Schüler aus Beslan durch die Gänge des Reichstags. Sie blicken durch gläserne Wände in den leeren Plenarsaal. Sie sehen den Stuhl des Kanzlers, der ein bisschen größer ist als die Stühle der Abgeordneten. Sie haben viel gehört über die Demokratie in Deutschland. Sie wissen nicht, dass es im Moment ein Land ohne Parlament ist.

Sie sind nach Deutschland gekommen, um zu vergessen, 35 Kinder der Schule Nummer eins in Beslan und ihre Lehrerin. Sie überlebten, als Terroristen vor einem Jahr am ersten Schultag die Schule in der nordossetischen Kleinstadt stürmten und ihre Geiseln drei Tage lang quälten. Sie überlebten, als am 3. September russische Spezialeinheiten die Schule stürmten. 331 Menschen starben, 186 von ihnen Kinder.

Die Kinder von Beslan wissen nicht viel von der deutschen Politik und wie verwirrend sie im Moment ist. Aber sie lernen etwas über die Symbolkraft von Gebäuden. Der Reichstag ist ein Ort, der in Flammen aufging, zum Symbol wurde für verlorene Zukunft; die rote Fahne mit Hammer und Sichel auf dem Dach des Reichstags wurde zum Symbol für den Sieg der Roten Armee über Deutschland. Die Kinder von Beslan kennen dieses Bild. Es illustriert den Krieg ihrer Urgroßväter, ein Gemetzel, das sie den Großen Vaterländischen Krieg nennen.

60 Jahre später stehen die Urenkel vor den Namen und Botschaften, die sowjetische Soldaten damals an den Wänden des Reichstags hinterließen. Sie sehen frisch aus, als hätten die Soldaten sie gestern geschrieben. »Man spürt, wie glücklich sie waren, diesen Krieg nach so langer Zeit endlich gewonnen zu haben«, sagt Alichan Kudakow.

Alichan war 15, als er den Sturm auf die Schule Nummer eins in Beslan überlebte und ein Gefühl dafür bekam, wie Terror aussieht. Er hat ein schmales Gesicht, hoch die Wangenknochen, spitz zulaufend das Kinn. Er trägt eine rote Baseballkappe und rote Turnschuhe von Adidas. Alichan dreht sich und blickt sich langsam um, Kaugummi zwischen den Zähnen, als wollte er die Bilder in seiner Erinnerung speichern.

Das Land, das seine Urgroßväter besiegten, hat ihn eingeladen, nachdem der moderne Krieg nach Beslan kam, der Krieg islamistischer Terroristen. Renate Schmidt, die Ministerin für Familie und Jugend, wünschte es sich. Die Kinder von Beslan stehen unter der gläsernen Kuppel des Reichstags und warten. Regen plätschert, ein kalter Wind pfeift durch die Kuppel. Sie hatten sich auf den Sommer in Deutschland gefreut. Sie frieren.

Renate Schmidt kommt mit kleinem Gefolge und etwas zu spät. »Ich weiß«, sagt sie, »es ist kalt in Deutschland.« Sie lächelt. Ihr Besuch ist ein Fototermin, ein Bild für die Kinder und eins für die Pressestelle der Ministerin. Es wird nicht viel geredet auf Fototerminen. Aber Renate Schmidt möchte den Kindern etwas sagen. »Ich glaube, dass man so etwas nie vergessen kann«, sagt sie, »man muss nicht immer daran erinnert werden.« Es ist ein merkwürdiger Satz auf dem Dach des Reichstags.

Die Ministerin hat Geschenke mitgebracht, Rucksäcke mit Aufklebern des Ministeriums und weiße Umschläge mit Sonderbriefmarken. Renate Schmidt läuft zwischen den Kindern umher und fragt dreimal, ob auch wirklich alle ihr Geschenk bekommen haben. Sie sieht ein bisschen großmütterlich aus, wie eine deutsche Babuschka, nur schicker.

Die Kinder gehen hinauf in die Spitze der Kuppel. Draußen trommelt der Regen, Berlin liegt da wie ein Aquarell. Wolken drücken auf die Dächer der Stadt. Alichan steht mit dem Gesicht nah am Glas. Er will wissen, wo die rote Fahne wehte, wo die Mauer stand, wo Osten war und wo Westen. Er will die Vergangenheit sehen.

Die Gruppe fährt hinab in den Keller und geht durch einen Tunnel hinüber ins Paul-Löbe-Haus. Es trägt den Namen des letzten demokratisch gewählten Reichstagspräsidenten. Hier tagen die Ausschüsse des Parlaments. Doch das Parlament ist aufgelöst, die Besucher aus Beslan sind nur gekommen, um zu essen. Aber Schanna Kokajewa kann nicht essen.

Sie ist Lehrerin für Wirtschaft und Informatik an der Schule Nummer eins in Beslan, und es kommt jetzt alles zurück, der Anschlag, der Krieg, die ganze verdammte Geschichte. »Es ist so viel Leid geschehen zwischen unseren Völkern«, sagt die 45-Jährige, »und jetzt sind wir hier, wo unsere Soldaten sich gegenseitig umbrachten, und bringen euch unsere Kinder.« In der Hand hält sie ihren roten russischen Pass, als habe sie Angst, sich jederzeit ausweisen zu müssen.

Schanna Kokajewa erzählt, dass sie in Beslan eine neue Schule gebaut haben, aber dass die alte noch stehe. Ein paar Tage bevor sie nach Deutschland kamen, haben sie Marina Dsukajewa-Tagsijewa beerdigt. Sie war 31 und lag nach dem Anschlag fast ein Jahr lang im Koma. Auch sie war in Deutschland, aber die Ärzte konnten nichts für sie tun. Am 1. September beginnt in Beslan wieder die Schule. Die Kinder werden sich auf dem Schulhof zum Appell aufstellen, Hand in Hand, so wie vor einem Jahr. MARIO KAISER

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