Tsunami in Miyagi Im Reich der Toten
Hamburg - Naomi Ishizawa hatte Glück, sie lebt, und ihre Familie auch: Der Tsunami rollte bis knapp vor ihr Haus in einem Vorort der nordjapanischen Stadt Sendai. Die Wände im Schlafzimmer und im Bad stürzten ein. Ihre Eltern, die zum Zeitpunkt des verheerenden Erdbebens zu Hause waren, kamen mit dem Schrecken davon. Die 24-jährige Verkäuferin brauchte Stunden, bis sie von der Arbeit im Stadtzentrum zu Hause ankam und sich das Ausmaß der Schäden ansehen konnte: Nach dem schweren Beben bietet Sendai ein Bild der Verwüstung. Auch in vielen anderen Regionen Japans herrscht Chaos, zudem wächst die Angst vor der nuklearen Verstrahlung ( mehr dazu im Liveticker).
Etwa 130 Kilometer vor der Küste der Millionenstadt lag das Epizentrum des schweren Bebens, das den Tsunami auslöste. Die Welle drang bis zu zehn Kilometer ins Landesinnere ein; überall in Sendai sind die Spuren der Verwüstung zu sehen: Die Straßen stehen voller Wasser oder Schlamm, kaputte Autos stapeln sich, dazwischen liegen zerstörte Kleinflugzeuge; Bäume wurden entwurzelt. Überall zeugen Gegenstände von Leben, das ausgelöscht worden ist: Ein Piano, ein Buch, ein zerrissener roter Schlafsack.
In Miyagi wurden bislang 379 Tote gezählt. Der Polizeichef sagt, es sei nahezu sicher, dass mehr als 10.000 Menschen gestorben seien. Auch in Sendai, das etwas weiter im Landesinneren liegt, gibt es zahlreiche Tote. Die Region Miyagi ist eine japanische Präfektur und liegt im Nordosten der Hauptinsel Honshu. Insgesamt leben hier rund 2,3 Millionen Menschen.

In vielen Straßen Sendais steht noch das Wasser, Rettungskräfte sind mit Booten unterwegs. Nach wie vor gibt es keinen Strom, auch das Telefonnetz ist zusammengebrochen. Menschen warten geduldig vor den wenigen Supermärkten, die wieder geöffnet haben, um sich mit dem Nötigsten zu versorgen. Auch vor Tankstellen drängen sich Kunden.
Ein Lebensmittelmarkt fünf Kilometer von der Küste entfernt ist geöffnet, obwohl es keinen Strom gibt und der Fußboden mit Schlamm bedeckt ist. "Das Wasser floss von allen Seiten hinein", erzählt Ladenbesitzer Wakio Fushima. "Autos trieben vorbei." Die meisten seiner Kunden versorgen sich mit Getränken und Fertiggerichten; ihnen ist klar, dass es sehr lange dauern wird, bis wieder Normalität einkehrt.
"Kleinere Autos trieben an mir vorbei"
Viele sind nur knapp mit dem Leben davongekommen: "Der Tsunami war unglaublich schnell", erzählt Lkw-Fahrer Koichi Takairin. Er saß in seinem Fahrzeug, als das Wasser kam. "Kleinere Autos trieben an mir vorbei. Ich konnte nichts tun als in meinem Lastwagen zu sitzen und zu warten." Die Nacht verbrachte er in einer öffentlichen Unterkunft. Andere übernachteten draußen, schliefen im Freien oder liefen durch die Straßen, um das Geschehene zu verarbeiten. Viele konnten nicht nach Hause, weil die Straßen unpassierbar waren, ihre Heim zerstört oder beschädigt wurde.
Dazu kommt nun auch noch die Angst vor einer atomaren Katastrophe: Experten haben in Miyagi eine 400 Mal höhere Radioaktivität als normal gemessen.
Ein Sprecher des örtlichen Atomkraftwerksbetreibers sagte, die Reaktoren in der Region seien stabil. Experten vermuten, dass der Wind Radioaktivität aus der Provinz Fukushima herübergeweht habe. Die beschädigten Reaktoren von Fukushima liegen gut 150 Kilometer von der Region mit der erhöhten Strahlung entfernt.
Wie benebelt laufen die Menschen durch die Straßen
Nach wie vor ist das Ausmaß der Zerstörung völlig unklar. Viele Tausend Menschen sind nach wie vor von der Außenwelt abgeschnitten und warten auf Rettung durch Helikopter. Millionen Haushalten fehlt es an Strom, Trinkwasser und Lebensmitteln.

Am Flughafen Sendais warten 2000 Menschen auf Hilfe, in der Stadt mehr als tausend. In der näheren Umgebung des Kraftwerks Onagawa - hier wurden erhöhte Strahlenwerte gemessen - sind 2000 Menschen von der Außenwelt abgeschnitten.
Eine große Raffinerie außerhalb Sendais brennt seit Freitag, Beobachter berichten von 30 Meter hohen Flammen und beißendem Rauch. Die Nachrichtenagentur AP zitiert eine Mitarbeiterin der Raffinerie, die sich am Freitag freigenommen hatte: "Ich hatte Glück, aber ich mache mir große Sorgen um meine Kollegen. Mein Handy funktioniert nicht, und ich habe keine Ahnung, wie es ihnen geht."
Auch die Kleinstadt Tagajo nahe Sendai wurde von dem Tsunami schwer getroffen. Wie benebelt wandern die Bewohner durch die Straßen. Überall liegen zerstörte Auto herum, viele Häuser sind eingestürzt. Augenzeugen berichten, das Wasser sei in vielen Gebäuden bis in den ersten Stock geflossen.
Das örtliche Krankenhaus ist völlig überlastet. "Es gibt keinen Strom und kein Wasser", sagt ein Sprecher. "Und wir haben sehr kranke Menschen hier."
Die Regierung hat die Zahl der Soldaten für die Katastrophenhilfe mittlerweile auf 100.000 verdoppelt.